Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
Heisenberg mit Niels Bohr und dessen Sohn Christian sowie von Weizsäcker und Felix Bloch an der Bahnstation Oberaudorf unweit der österreichischen Grenze aufbrach. Der Aufstieg zur Skihütte, die am Südhang des Großen Traithen auf der Steilen Alm stand, war anstrengend; im Sommer wäre er leicht in zwei oder drei Stunden zu schaffen gewesen, aber weil tags zuvor ein Meter Schnee gefallen war, würde es nun doppelt oder dreimal so lange dauern.
    Der Weg führte steil bergan durch tief verschneiten Wald, das Gepäck wog schwer. Während der ersten Rast gab Heisenberg zum Besten, dass jetzt »inversives Bergsteigen« angenehm wäre, wie er es in Amerika am Grand Canyon erlebt habe. Dort komme man im Schlafwagen auf zweitausend Metern Höhe am Rande einer großen Wüstenebene an und könne bequem bis zum Colorado River absteigen, der sich praktisch auf Meeresniveau befinde; allerdings müsse man hernach auf dem Rückweg zum Schlafwagen die zweitausend Meter wieder hochklettern.
    Der mühsamste Teil des Aufstiegs stand ihnen nach Anbruch der Nacht bevor, als sie eine Höhe erreichten, in welcher der Schnee keine Festigkeit mehr hatte und besorgniserregend pulvrig war. Heisenberg stapfte schweigend voran, hinter ihm folgten Niels und Christian Bohr und dann Carl Friedrich von Weizsäcker, der den Weg mit einem Windlicht beleuchtete. Den Abschluss bildete Felix Bloch, weil er der erfahrenste und ausdauerndste Berggänger war.
    Die Männer keuchten, niemand sprach ein Wort. Der Aufstieg ging langsam voran, weil Bohr, der um zwanzig Jahre der Älteste war, schon ein wenig ermüdete. Kurz nach zehn Uhr hatte Heisenberg, wie er später in »Der Teil und das Ganze« schrieb, plötzlich die sonderbare Empfindung, in der Schwärze der Nacht ins Schwimmen zu geraten. Untereins war er von Schnee umgeben und hatte keine Herrschaft mehr über seine Gliedmaßen, und eine Weile konnte er nicht mehr atmen, obwohl sein Kopf oberhalb der Schneemassen blieb. Dann kam alles zur Ruhe. Heisenberg befreite sich aus dem Schnee und drehte sich nach seinen Freunden um, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Er rief »Niels!« und erhielt keine Antwort. Da erschrak er, weil er annehmen musste, dass seine Freunde von der Lawine mitgerissen worden waren. Unter größter Anstrengung grub er seine Ski aus dem Schnee, spähte noch einmal in die Nacht und entdeckte weit oben am Hang ein Licht – es war von Weizsäckers Windlicht. Da begriff Heisenberg, dass die Lawine nicht die Freunde, sondern ihn mitgenommen hatte, während jene auf dem Pfad stehengeblieben waren. Rasch schnallte er sich die Ski an die Füße und stieg zu den anderen auf. Nachdem sie einander atemlos versichert hatten, dass sie alle wohlauf seien, setzten sie schweigend ihren Weg fort.
    Sie erreichten die Skihütte am nächsten Morgen durch blendend weiße Schneemassen unter einem dunkelblauen Himmel. Nach dem Schrecken und den Anstrengungen der Nacht stand ihnen der Sinn noch nicht nach Skifahren, also schaufelten sie das Hüttendach frei und legten sich in die Sonne. Und als sie die Sprache wiedergefunden hatten, sprachen sie nicht etwa über den Leipziger Polizeipräsidenten, der per Dekret die »Leipziger Volkszeitung« verboten hatte, und auch nicht über die SA-Horden, die das jüdische Kaufhaus Held an der Merseburger Straße geschlossen hatten; sie sprachen nicht darüber, dass die Stadt Leipzig wenige Tage zuvor Hitler und Hindenburg das Ehrenbürgerrecht verliehen hatte, und auch nicht darüber, dass an der Universität schon acht Professoren per sofort beurlaubt worden waren.
    Über all das sprachen sie nicht, weil sie sich ihrer Ohnmacht schämten, und weil es keine Worte gab, die der Katastrophe angemessen gewesen wären. So diskutierten sie stattdessen vor dem prächtigen Alpenpanorama die Frage, ob es nebst Neutronen und negativ geladenen Elektronen auch positiv geladene Anti-Teilchen geben könne, wie ihre amerikanischen Kollegen Dirac und Anderson unlängst behauptet hatten. Niels Bohr zog die jüngste Nummer der »Physical Review« aus dem Rucksack, in der eine Nebelkammerfotografie abgebildet war, die das zu beweisen schien. Zu sehen war der Kondensstreifen eines Teilchens, das in der Nebelkammer eine Bleiplatte durchschlagen und an einem starken Magneten vorbeigeflogen war. Erstaunlich an der Aufnahme war, dass der Kondensstreifen sich nicht zum Magneten hin krümmte, wie er es hätte tun müssen, wenn es sich um ein negativ geladenes Elektron gehandelt

Weitere Kostenlose Bücher