Der Fall Carnac
nicht weg! Wir sind bald wieder da.«
Die alte Nanou wohnte in einem Haus aus unbehauenen Granitsteinen mit Strohdach im Schatten einer Kieferngruppe.
Solche Häuser sah man oft auf Bildern, doch in Natur begegnete man ihnen nur noch sehr selten, selbst in der Bretagne.
Rundherum breitete sich die Heide mit ihrem Stechginster, die sich sanft zum Meer hin senkte.
Als die jungen Mädchen kamen, saß Nanou auf einem Stuhl vor der Haustür. Sie hob die Hand über die Augen, um die Besucherinnen erkennen zu können. »Guten Tag, Nanou.«
»Guten Tag, Fräulein. So früh habe ich Sie nicht erwartet.«
»Sie haben uns erwartet?«
»Ach du meine Güte!« rief Nanou und richtete sich auf. »Da habe ich dich doch für das Fräulein gehalten, das mir meine Rente bringt.«
Sie küßte Anne ein-, zwei-, dreimal.
»Wie groß du geworden bist, mein Kind, und was du für runde Backen hast! Ich habe dich lange nicht mehr gesehen.«
»Kaum zwei Monate, Nanou.«
»Und das andere kleine Fräulein?«
»Das ist Line aus Paris, Sie wissen doch, die Tochter von Helene.«
»Die Tochter von Helene! So ein großes Mädchen hat Helene schon! Wie geht es Helene denn? Will sie mich nicht besuchen?«
Die beiden mußten der alten Frau alles erzählen, alles erklären und ihr von allen Bekannten berichten.
»Kommt doch ein Weilchen mit hinein, damit ich euch nicht vor der Tür abfertige wie Bettler.«
Sie mußten sich an den Tisch setzen, den Hund stören, der dort schlief, erklären, daß sie nicht zum Essen bleiben könnten, weil die Jungen allein zu Hause seien und nur die kleine Genoveva als Köchin hätten, und daß sie deshalb rechtzeitig zurückfahren müßten.
Dann erst konnte Anne auf den Zweck des Besuches zu sprechen kommen.
»Erinnern Sie sich noch an das kleine Bild, Nanou, das im Salon hing, links vom Geschirrschrank?«
»Links vom Geschirrschrank? Aber zu meiner Zeit stand der Geschirrschrank doch gar nicht im Salon, er stand im Speisezimmer. Im Salon waren das Klavier, der große Schrank voll von Büchern und die Sessel.«
Ja, natürlich. Jetzt war alles anders. Das Klavier war schon lange nicht mehr da, und der Bücherschrank und die Sessel waren auf den Boden geschafft worden. Mama hatte wohl den Salon mit den älteren Möbeln eingerichtet.
»Und hingen keine Gemälde an den Wänden, Nanou?«
»Nein. Soweit ich weiß, nicht. Da hingen nur Rahmen mit Fotografien.«
Line packte das Paket aus und reichte es Anne. Die wickelte das Bild aus der Papierhülle.
»Erkennen Sie das Bild, Nanou?«
Sie gingen wieder vor das Haus.
Die alte Frau nahm das Gemälde in beide Hände und legte den Kopf zurück.
»Aber das bin ich ja!« rief sie. »Natürlich erkenne ich das! Das war doch das Bild, das zusammen mit einem andern von einem Soldaten hing. Ich habe aber nie erfahren, ob dieser Soldat ein Verwandter war oder was.«
Die beiden Mädchen tauschten einen Blick voller Hoffnung aus.
»Wissen Sie auch, wer dieses Porträt gemacht hat?« fragte Line.
»Aber gewiß! Ich erinnere mich noch ganz genau. Ich habe damals genug Mühe gehabt, mich nicht zu bewegen. Vor allem, wenn er mich anschrie, als ob ich ein störrisches Pferd wäre. >Wirst du wohl stillhalten!<, so hat er immer gerufen. Eigentlich war es ja zum Lachen.«
»Und wer war das, der gerufen hat, Nanou?«
»Der Herr Paul natürlich doch.«
»Und wer war dieser Herr Paul?«
»Na, der, der das Bild gemalt hat.«
»Paul - und wie weiter? Hieß er Jaouen - wie wir?«
»Aber nein doch! Das war kein Jaouen! So kennst du deine Familie? Das war ein Bekannter von Herrn Heinrich oder vielleicht auch ein entfernter Vetter von der Seite von Frau Adelaide.«
Nanou überlegte eine Weile.
»Aber vielleicht war es doch ein Verwandter, weil er mit uns gegessen hat.
Wart mal, jetzt erinnere ich mich.
>Um Ihnen zu danken, werde ich Ihr Porträt malen<, hat er zur gnädigen Frau gesagt. Aber die gnädige Frau wollte sich nicht malen lassen. >Dann die Kleine da.<
Und die Kleine, das war ich. Ich war aber schon ein großes Mädchen. Und ich wollte nicht, daß er mich mit einem häßlichen Gesicht zeichnete. Weil er ja gar kein richtiger Maler war, wenn man’s genau nimmt. Aber es ist ihm gar nicht schlecht gelungen, das muß man wirklich sagen.«
»Und seinen Namen wissen Sie nicht mehr, Nanou? Überlegen Sie doch mal! Wo hat er denn gewohnt?«
»Wo er gewohnt hat? Das war eine ganze Horde, die nicht viel zu tun hatte, das ist sicher. Ich habe nie erfahren,
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