Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
je nach Lesart – kreative oder auch unkonventionelle Methoden an. Eine Lösung, die den Beamten einfiel, klingt zunächst kurios: Zeugen, die Peggy am Nachmittag oder Abend gesehen haben wollten, könnten einer Verwechslung aufgesessen sein. Eine solche Theorie mag zunächst plausibel scheinen. Hier jedoch ging sie gründlich schief – und das gleich zwei Mal.
Im Fall Peggy wurde sie bei zwei Zeugenbeobachtungen aufgestellt. Zum einen bei einem damaligen Kinderzeugen: Er hatte unmittelbar nach Peggys Verschwinden ausgesagt, er habe das Mädchen zwischen 15.30 und 16 Uhr »im Bereich des Rathauses von Lichtenberg« auf dem Marktplatz erkannt. Das deckte sich mit dem, was andere Kinder auch ausgesagt hatten. Bei einer weiteren Vernehmung am 2. Mai 2002, also ein Jahr später, sagte der Junge dagegen, er könne eine Verwechslung »nicht ausschließen«.
Ein Satz, geäußert aus freien Stücken? Oder aber, indem man ihm diese Verwechslungstheorie »nahegelegt« hat?
Zuvor hatten ihm die Ermittler nämlich vorgehalten, er habe womöglich nicht Peggy gesehen, sondern ein Mädchen namens Alexa Rudolf. Ob diese zur fraglichen Zeit allerdings in der Stadt war, ist umstritten. Die Polizei behauptet ja, Alexas Mutter bestreitet es. Die Beamten schreiben in der Ermittlungsakte, Alexa habe »während des vorgenannten Zeitraumes« mit ihrem Bruder auf dem Marktplatz gespielt. Das hätten »Ermittlungen ergeben«.
Bei diesen Ermittlungen handelt es sich offenbar um die Aussage einer Bäckereiverkäuferin, die sagte, gegen 16 Uhr sei Alexa mit ihrem Bruder in ihr Geschäft gekommen und habe fünf Kaugummis gekauft. Die Bäckerei ist nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt. Die Mutter der beiden wiederum habe, so der Polizeibericht, »behauptet, dass ihre beiden Kinder sich nicht im Bereich des Marktplatzes aufhielten«. Die Ermittler entschieden sich, der Verkäuferin zu glauben. Demnach habe sich Alexa in der Ortsmitte aufgehalten, wo der Zeuge sie gesehen – und mit Peggy verwechselt haben könnte.
Die zweite Doppelgängerinnen-Theorie, mit der die Polizei versuchte, eine Zeugenaussage vom Tisch zu bekommen, ist noch abenteuerlicher. Ein weiterer Kinderzeuge hatte im Verhör geschildert, dass er Peggy noch am Abend des 7. Mai am Lichtenberger Stadtrand gesehen habe. Mit ihrem Tretroller sei sie Richtung Zeitelwaid gefahren. Doch am 11. Februar 2002 erklärte Soko-Chef Wolfgang Geier in der örtlichen Tageszeitung, er habe diese Aussage widerlegen können. Geier habe in der Nachbarschaft ein anderes Mädchen ausfindig gemacht, das einen identischen Roller besitze und zudem ähnlich gekleidet gewesen sei wie Peggy.
Was er in dem Zeitungsinterview verschwieg: Kerstin Menne taugte nicht als Peggy-Doppelgängerin – sie war am 7. Mai 2001 gar nicht in Lichtenberg. Ein Fakt, über den Geier Bescheid gewusst haben muss. Seine Ermittler hatten die Familie des Mädchens drei Mal aufgesucht in der Hoffnung, eine Bestätigung für ihre Verwechslungsgeschichte zu erhalten. Jedes Mal erklärte Kerstins Vater, ein Finanzbeamter, dass sie sich irrten. Schließlich schrieb er sogar einen wütenden Brief an den Vorsitzenden Richter Georg Hornig, dessen Kammer Ulvi zu lebenslanger Haft verurteilte. »Wir haben dreimal die Aussage gemacht, dass Kerstin zu diesem Zeitpunkt hundertprozentig nicht in Lichtenberg war und eine Verwechslung mit ihr nicht möglich ist«, heißt es darin. Außerdem wirft er der Polizei vor, seine Angaben einfach ignoriert und die weiteren Ermittlungen ungerührt auf einem Irrtum aufgebaut zu haben, nämlich der hiermit widerlegten Doppelgängerinnen-Theorie. »Uns wurden ständig Suggestivfragen gestellt, wie ›es muss doch aber ihre Tochter gewesen sein!‹«, schrieb Menne an Richter Hornig. In seinem Ärger warf er den Ermittlern vor, die Wahrheit nach Belieben zu manipulieren. »Es kann doch aber nicht sein, dass sich unsere Polizei ihre Fakten so zurechtlegt, wie es für eine erfolgreiche Arbeit notwendig ist.« Als Beamter sei er es gewohnt, seine »Entscheidungen nach Recht und Ordnung« zu treffen. Mennes Brief schließt mit der bitteren Feststellung: »Mein Glaube an den Rechtsstaat ist tief erschüttert.«
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Am 4. Dezember 2003 berichtete die Frankenpost darüber, dass »die 45-jährige Lichtenberger Hausfrau« Edith Scholz in den Zeugenstand gerufen wurde und dort ihre Aussage wiederholte. Zwischen 12.55 und 13.10 Uhr habe sie Ulvi auf der Bank gesehen. Dass der Zeitraum für eine Hin- und
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