Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
und habe einige Worte am Grab-Gedenkstein gesprochen.
Seitdem kommen immer wieder Leute und besichtigen dieses merkwürdige Kindergrab. Jeder, der ab und zu über Friedhöfe spaziert und die Inschriften der Grabsteine liest, der kennt diese leichte Beklemmung, die einen erfasst, wenn man zwischen all den Gräbern ein Kindergrab entdeckt und sich fragt, warum dieser Mensch nur wenige Jahre zu leben hatte. Dasselbe Gefühl würde man verspüren, würde man Peggys Grab zufällig entdecken, aber die meisten entdecken es nicht zufällig, sondern suchen es gezielt auf, weiß der Pfarrer. Immer wieder würden sich Leute bei der Gemeinde erkundigen, weil sie den Fall Peggy aus den Zeitungen kennen und wissen, dass es keine Leiche gibt, und sie würden fragen, was denn also in diesem Grab liege. Und stets seien sie irritiert, so, wie er irritiert gewesen war und ebenso seine Gemeinderäte, als sie von der leeren Gruft erfuhren. »Ja«, bekennt der Pfarrer in breitestem Fränkisch, »dass da Irridadsionen waren, wolln mer ned leugnen, und dass wir da kurz g’schnauft ham, auch ned.«
Immerhin – für den unwahrscheinlichen Fall, dass Peggy doch noch einmal auftauchen sollte, hat die Gemeinde vorgesorgt. Dann, so sei es vertraglich mit Susanne Knobloch vereinbart, werde das leere Grab sofort wieder beseitigt.
Kapitel 32
Thorsten Engelhard
V iele Polizisten, die damals an den Ermittlungen beteiligt waren, vor allem Beamte der ersten Sonderkommission, antworten auf die Frage, was mit Peggy Knobloch passiert sein könnte, entwaffnend ehrlich: Wir wissen es nicht. Sie halten das Urteil gegen Ulvi Kulac für falsch und rechtsstaatlich bedenklich.
Öffentlich sagen sie das nicht, weil sie fürchten müssen, dafür disziplinarisch belangt zu werden. Aber immer wieder haben einzelne Polizisten Vertrauen gefasst und doch mit uns gesprochen. Manch einer empfand das sogar als Erleichterung – weil er den Fall Peggy für einen besonderen Fall hält. »Der ist den meisten Kollegen wirklich unter die Haut gegangen«, sagte einer. Unter den Beamten seien »gestandene Kriminalisten«, die es als schmerzlich empfinden würden, einen Fall ohne wirkliche Lösung zu den Akten zu legen, und die lieber weiterermittelt hätten. Aber der Fall Peggy war anders. »Der ließ sich nicht lösen«, hören wir. Der öffentliche Druck und der von oben sei zu groß gewesen. Die Chefs hätten irgendwann einen Schlussstrich verlangt, weil sie den Rechtsfrieden in Gefahr sahen. Aber das Gerichtsurteil habe bekanntlich keinen Frieden hergestellt. Das Gericht habe den Grundsatz »in dubio pro reo« ignoriert und einen Mann verurteilt, dem es die Tat in Wahrheit nicht beweisen konnte – weil es eben keinen einzigen Beweis und keine Leiche gebe. Es wäre besser gewesen, auf das Gerichtsverfahren zu verzichten, meinen diese Beamten. Dann wäre der Fall Peggy heute offiziell noch ein Vermisstenfall. Das wäre zwar auch unbefriedigend, entspreche aber den Tatsachen, denn es sei faktisch ja sogar unbewiesen, ob Peggy wirklich ermordet wurde. Dass sie noch lebt, glaubt andererseits keiner der Ermittler, jedenfalls haben wir keinen getroffen, der dieser Ansicht wäre. Dafür hätten die Zeitungen zu viel geschrieben, die Schlagzeilen seien zu groß gewesen. Jeder habe mitbekommen, dass Peggy verschwunden sei, jeder habe von den 55000 DM Belohnung gehört. Irgendjemand hätte sich gemeldet. Aber es meldete sich niemand, bis heute nicht.
Was aber ist dann mit Peggy passiert? Als wir mit der Arbeit an diesem Buch begannen, haben wir uns diese Frage zunächst nicht gestellt. Sie erschien uns vermessen. Immerhin haben unzählige Kriminalbeamte jahrelang nach dem Mädchen gesucht und Tausende Hinweise abgearbeitet. Diesen Aufwand kann kein Buchautor leisten. Es ging uns um die Fehler des Ermittlungsverfahrens und um die Mängel des Prozesses, darum, zu zeigen, dass mit Ulvi Kulac nicht der Richtige verurteilt wurde. Aber im Laufe der Recherchen fiel uns ein anderer Name immer wieder auf, und als wir begannen, uns intensiver mit diesem Mann zu beschäftigen, stießen wir auf Indizien, die uns fragen ließen, ob dieser Mann nicht in viel höherem Maße verdächtig sein müsste als Ulvi Kulac. Einen Beweis dafür, dass er etwas mit Peggys Verschwinden zu tun hat, haben wir nicht. Doch die Indizien gegen ihn sind stimmiger, belegbarer und weniger widersprüchlich als die Hinweise auf Ulvi Kulac. Sie passen zu den Aussagen der zahlreichen Zeugen, die Ulvi und Peggy am
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