Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
Lisett ihren Arm um seine Schulter und küsste ihn sanft auf die Wange.
Überall lagen Leichen. Der Platz war rot von Blut, das sich mit Regenwasser und Dreck vermischt in schmierigen Pfützen sammelte.
„Hier liegt der Fremde mit dem Bogen irgendwo“, erklärte Wigget. „Da vorn!“
Alep trat zu ihm und betrachtete das entstellte Gesicht. Von seinen Augen, seiner Nase und dem Mund war so gut wie nichts übriggeblieben. Stirn, Wangen und Kinn waren bar jeder Haut und bleiche Knochen schimmerten stellenweise durch das schwarze Fleisch. Alep schüttelte sich. Mit finsterem Blick beugte er sich herab und presste sein Ohr auf die Brust des Kahlköpfigen. Das verdorbene Herz des Mörders schlug noch, zwar langsam, aber kräftig genug. Er würde es überstehen.
„Hat jemand ein Seil oder irgend etwas, womit wir ihn fesseln können?“, erkundigte sich Alep mit rauer Stimme.
„Lass ihn liegen“, entgegnete Kwin achselzuckend. „Der läuft sicher nicht weg.“
Nach dem ersten Blick auf das entstellte Gesicht des Fremden hatte Lisett schnell woanders hingeschaut. „Unsere Wagen! Die Bühne“, rief sie plötzlich. Dann sahen es auch Kwin und Alep. Vom Besitz der Artisten war nichts übriggeblieben. Die Nat Chatkas hatten ganze Arbeit geleistet.
Die Tür der Schmiede stand weit offen. Langsam gingen Kwin und Lisett daran vorbei und erreichten den Hinterhof.
Ein Schwelbrand glühte an der Rückseite der Schmiede. Auch hier war gekämpft worden. Einige Echsenleichen lagen reglos zwischen der Schmiede und dem Bauernkarren. Nahebei erkannte Kwin die reglosen Gestalten von Velde Elders und Schmied Handemann. Für sie kam jede Hilfe zu spät.
„Leise“, forderte Lisett und hob eine Hand. „Ich glaube, ich höre was.“
Alep hielt den Atem an. Und dann nach wenigen Augenblicken hörte er es auch. Ein leises, verzagtes Schluchzen drang an sein Ohr. Rina! Er schaute Lisett und Kwin bittend an und wies mit einer Geste auf Velde und Handemann. Kwin nickte stumm, nahm die Plane vom Wagen und breitete sie vorsichtig über die beiden Toten.
Ängstlich darüber, was ihn erwartete, schaute Alep unter den Karren. Dort lag seine kleine Schwester eingerollt, den Kopf zwischen den Armen versteckt und weinte. Sanft sprach er zu ihr und es dauerte lange, bis Rina ihn ansah.
„Wo warst du?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Sie haben Papa geschnitten! Wo warst du?“
Vorsichtig nahm Alep sie in die Arme und stand auf.
Kwin vernahm ein zischendes Stöhnen. Eine der Echsen regte sich. Ohne Nachzudenken erhob er sich und trat an sie heran.
Sie lag auf der Seite. Ihr Kiefer war ein einziger Brei. Kwin erkannte die Einbuchtung, die der Schlagstock von Aleps Vater hinterlassen hatte. In seinen Klauenhänden hielt der Nat Chatka noch immer zwei gebogenen Dolche. Seine Beine zuckten in krampfartigen Stößen. Sie waren mit borstigen Haaren bedeckt, wie bei einem Insekt. Zwischen den Beinpaaren streckte sich ein kantiger, langer Echsenkörper, der in einem dünnen Schwanz endete. Der Kopf war flach und erinnerte Kwin an den einer Sumpfschlange. Feine Schattierungen waren als Muster auf den Hornschuppen zu erkennen. Sie zogen sich von den wulstigen Lippen über den Kopf bis zum Schwanzende.
Plötzlich torkelte eine dünne Gestalt aus der Scheune bei der Schmiede. Shiral. Er stützte sich auf einen Stab. In der anderen Hand hielt er ein zweischneidiges Messer. Mühsam sah er sich um und erkannte Kwin und Lisett. Wortlos nickte er der Seiltänzerin zu. Shiral wankte Kwin entgegen. Grob stieß er ihn zur Seite und sah die Echse mit kaltem Blick an. Dann knickte sein rechtes Bein ein und er sank auf das gesunde Knie. Völlig gefühllos und zu Kwins Entsetzen schlitzte er dem Nat Chatka die Kehle auf. Präzis und methodisch von einem Ohr zum anderen, so wie man einen Apfel zerteilt. Dann begann er zu schluchzen.
Mit einem Schaudern wandte Kwin sich ab und legte einen Arm beschützend um Lisett. Gemeinsam mit Alep, der seine Schwester trug, machten sie sich auf den Weg zurück. Als sie Spindel erreichten legte Alep Rina in Kwins ausgestreckte Arme, packte den Fremden an einem Bein und schleifte ihn hinter sich her bis zur Gasse. Whirl und Jockele warteten schon auf sie. Sie hatten Glück gehabt. Im Keller der Mühle hatten sie vier Bitterqueller gefunden, die erst nach heftigem Zureden heraufgekommen waren. Ledus und Tarak berichteten, dass neben der Mühle unten am Fluss das Gasthaus Birkenhof für die Unterbringung der Verletzten
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