Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
geeignet war. Alep befahl, die Verletzten in die Schenke zu tragen.
5. Aufbruch
Der Krankentransport von der Gasse bis zum Birkenhof währte bis in die späten Abendstunden. Großmutter Elders hatte angeordnet, die Betten aus den Gästezimmern der oberen Etagen in den Schankraum herunterzubringen. Nun ähnelte das Gasthaus einem Feldlazarett und der große Raum hallte wider vom Stöhnen der Verletzten und den Anordnungen von Oma Elders und der Hellseherin Valda, die gemeinsam mit Maliche die Verwundeten versorgte. Erst weit nach Mitternacht gönnten sich alle eine Pause. Die meisten schliefen ein, wo sie gerade waren: auf zusammengerückten Stühlen, oder auf Bänken und Tischen, die man im hinteren Teil des Gasthofes zusammengeschoben hatte. Oma Elders sah noch einmal nach ihrem Mann. Großvater Elders lag bleich und unbeweglich in einem Bett. Seine Brust hob sich nur zögerlich, als kostete ihn jeder Atemzug große Mühe.
Alep und Shiral hatten sich freiwillig für die erste Wache gemeldet. Keiner von beiden konnte schlafen. Wigget hatte sich auf Aleps Schulter zusammengerollt und schnarchte leise. Alep spürte den warmen Atem des Drachen an seinem Ohr und war dankbar, nicht alleine zu sein. Er patrouillierte in östlicher Richtung durch das Dorf, Shiral wachte im Westen.
Sein Weg führte ihn irgendwann am Dorfplatz vorbei. Er hielt inne und betrachtete andächtig, was von der einst stolzen Kastanie übrig geblieben war. Alte Erinnerungen gingen ihm durch den Sinn; hier hatte es vor etwa zwölf Jahren begonnen, als er Kwin gegen Meister Wundel beigestanden hatte. Nun stand er wieder hier und nichts war mehr so wie früher. Er trauerte um seine Eltern, seinen Bruder, die gefallenen Dörfler und nicht zuletzt um die Kastanie, die aufs engste mit seiner Kindheit und seinen Erinnerungen verbunden waren. Ohnmächtiger Zorn ballte sich in seiner Brust, wälzte sich höher und verhielt hinter müden Augen, bis es keine Tränen mehr gab. Wer trug die Schuld an diesem unsinnigen Gemetzel? Wer war dafür verantwortlich? Sein Blick fiel auf den erbeuteten Schwertstab, an dem getrocknetes Blut klebte. Er fühlte sich schmutzig, aber lange nicht schmutzig genug, um diejenigen davonkommen zu lassen, die das sinnlose Töten befohlen hatten.
Als der Morgen heraufzog, trat Oma Elders aus dem Gasthof und rief Alep herein. Müde von einer langen durchwachten Nacht schritt er über den Marktplatz, als er plötzlich einen Hilferuf hörte. Erschrocken fuhr er herum. Vom Marktplatz kam eine Gestalt auf ihn zugetaumelt: Meister Borken. Tiefe Furchen hatten sich in das Gesicht des Tischlers gegraben. Seine Weste war voll von getrocknetem Blut. Borken blieb stehen, wankte, aber bevor er fallen konnte, war Alep bei ihm und fing ihn auf. Er legte Borkens Arm über seine Schulter und führte ihn zur Schenke. Umständlich öffnete er die Tür und brachte den alten Mann herein.
„Großmutter, schnell! Borken ist schwer verletzt.“
Oma Elders half Alep, den Verwundeten auf einen Tisch zu legen. Vorsichtig öffnete sie sein Hemd. Überall war Blut. Die Wunde sah aus wie ein riesiges Loch. Anscheinend hatte der Angreifer, nachdem er sein Messer in Borkens Körper gerammt hatte, es nach oben gedrückt und herumgedreht. Borken musste fürchterliche Schmerzen erlitten haben, ein Wunder, dass er überlebt und es allein vom Schießstand bis hierher geschafft hatte.
Von hinten ertönte Kwins Stimme: „Meister Borken lebt?“ Mit einem Satz war er aufgesprungen und eilte herbei.
Gebannt standen die beiden jungen Männer da. Kwin wagte kaum, sich zu rühren. „Starrt keine Löcher in die Luft, ihr beiden. Geht lieber in die Küche und macht euch nützlich, kocht Tee oder irgendwas.“ Aber die beiden traten lediglich einen weiteren Schritt zurück. Oma Elders reinigte vorsichtig die Wunde, während Valda das inzwischen getrocknete Blut vom Körper wischte. Oma Elders streute ein graues Pulver in und um die Wunde und legte dann mit Valdas Hilfe einen dicken Verband an. Dann waren die Frauen fertig. Großmutter Elders sah auf. „Er ist stark! Wenn er die Nacht übersteht, wird er wieder gesund“, sagte sie zu Kwin. Dann wandte sie sich an Alep und sagte seufzend: „Setz dich, mein Junge. Ich habe dir etwas zu sagen.“ Die alte Frau sah ihren einzigen Enkel entschlossen an. „Alep, du musst Bitterquell auf der Stelle verlassen.“
Alep öffnete schon den Mund, aber seine Großmutter brachte ihn mit einer besänftigenden Handbewegung zum
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