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Der FC Bayern und seine Juden

Der FC Bayern und seine Juden

Titel: Der FC Bayern und seine Juden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietrich Schulze-Marmeling
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Freilassung seines Mandanten erwirken und um Schutz für das Kaufhaus Uhlfelder bitten, dessen Fenster am Vorabend von braunen Sturmtruppen zerstört worden sind. Siegel wird in einen Raum gebeten, wo ihn aber nicht Polizeibeamte, sondern SA-Männer erwarten. Der Anwalt wird fürchterlich verprügelt. Ihm werden einige Vorderzähne ausgeschlagen, und sein Trommelfell platzt. Anschließend schneidet man ihm seine Hosenbeine ab und hängt ihm ein Plakat um den Hals, auf dem geschrieben steht: »Ich werde mich nie mehr vor der Polizei beschweren.«
    Barfuß, blutverschmiert und mit dem Schild um den Hals wird Michael Siegel nun von SA-Leuten durch die Ettstraße über die Kaufinger-/Neuhauserstraße und von dort über die Prielmayerstraße zum Hauptbahnhof getrieben. Hier richten die SA-Leute ihre Gewehre auf Siegel und drohen ihrem Opfer: »So, Jude, jetzt stirbst du!« Anschließend lässt man ihn laufen.
    Die Hetzjagd wird vom Berufsfotografen Heinrich Sanden festgehalten, der seine Fotos den lokalen Zeitungen anbietet, die aber eine Veröffentlichung ablehnen. Sanden ruft die US-Presseagentur International News Photographic Service an, die die Negative kauft. Der Fotograf sendet die Bilder an die Berliner Niederlassung der Agentur, die sie nach Washington D.C. weiterschickt, wo sie am 23. März 1933 auf der Titelseite der »Washington Times« erscheinen. Das Foto geht um die Welt und ist eines der ersten fotografischen Dokumente zur Judenverfolgung im Nazi-Deutschland.
    Trotz dieser brutalen Erfahrung ist es zunächst nicht Michael Siegel, sondern sein Vetter Julius, der die Zeichen der Zeit erkennt. Julius Siegel gibt 1934 seine Anwaltszulassung auf und emigriert noch im gleichen Jahr mit seiner Familie nach Palästina. In München lässt er eine sehr gut gehende Anwaltskanzlei zurück, die jährlich zwischen 30.000 und 32.000 Reichsmark einspielt. Seinen Sohn Uri, der in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters treten wird, wird man später als Entschädigung mit gerade mal 10.000 DM abfinden.
    Als Junge hat Uri Siegel 1932 Bayerns ersten deutschen Meistertitel gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern am Radio verfolgt – im bereits erwähnten Landhaus von Kurt Landauers Schwester Gabriele in Untergrainau bei Garmisch, »einem norwegischen Holzhaus mit 14 Zimmern, mit Wiese, Bach und rundherum Wald« (Siegel). Und von Gabriele Landauers Haus in der Kaufingerstraße beobachtete er wenig später den Einzug der Meistermannschaft zum Marienplatz: »Der Onkel und der Trainer saßen in der Kutsche. Neben dem Kutscher saß mein Vetter Otto.«
    In München hat Siegel jun. das katholische Ludwigs-Gymnasium besucht, wo er nur einer von zwei jüdischen Schülern ist. Seine Lehrer, so sagt er, hatten »mit den Nazis nichts zu tun«. Erfahrungen mit dem Antisemitismus in der Stadt machte er dennoch. Darüber berichtete er im September 2006 im »Jetzt-Magazin« der »Süddeutschen Zeitung«: »Als ich einmal mit der Trambahn nach Hause gefahren bin, hat ein Schaffner zu mir gesagt: ›Du bist doch ein Judenbüble, warum bist du noch nicht in Palästina?‹ Ein anderes Mal hat ein Pulk von Jungs bei uns um die Ecke meinen Freund Wolf Bacherach umzingelt. Als ich dazu kam und wissen wollte, was los ist, haben sie gesagt: ›Den schicken wir jetzt nach Dachau, wo die Juden Torf stechen müssen.‹ Damals war ich zehn. Ich hab’ mir nicht viel gedacht dabei, sondern bin einfach rein in den Pulk und habe den Wolfi heimgebracht. Was uns erwarten würde, habe ich gar nicht mitbekommen. Aber das illustriert, wie unbefangen und naiv ich damals war. Es war eine trügerische Ruhe – bis auf die Geschichte mit dem Michael Siegel.«
    Wie viele andere deutsch-jüdische Emigranten lässt sich auch die Familie Siegel in Palästina in der Nähe von Haifa nieder. Uri Siegel lernt in der Schule Hebräisch – und spricht dies mit bayerischem Akzent. Der Schuldirektor kommt aus Sachsen und lehrt das Alte Testament mit sächsischem Dialekt.
    Vater Julius absolviert in der neuen Heimat noch im Alter von 50 Jahren ein weiteres juristisches Studium, das er 1938 erfolgreich abschließt. In Haifa wird er daraufhin als Advokat zugelassen und übt diesen Beruf bis zu seinem Tod 1951 im Alter von 67 Jahren aus.
    Von Palästina aus bleibt die Familie Siegel in Kontakt mit Kurt Landauer. Uri Siegel: »Wir waren in Verbindung mit ihm, die Schweiz war ja neutral. Über ihn erfuhren wir auch etwas über das Schicksal der anderen Geschwister. Aber in

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