Der feine Unterschied
Vorkehrungen getroffen werden, um eine deutsche Bundeskanzlerin zu schützen, und wie lästig das sein kann. Sie erzählt von ihrem Alltag als Kanzlerin, wie wir über unseren Alltag als Profi berichtet haben.
Das Gespräch ist ganz zwanglos, nicht mehr so formell wie zu Beginn des Abends. Selbst was uns absolut selbstverständlich zu sein scheint, findet sie interessant, und umgekehrt ist das auch so. Ich bin überrascht, sie so offen sprechen zu hören. Als wir gegen Mitternacht aus dem Kanzleramt aufbrechen, habe ich das Gefühl, unsere Kanzlerin ein bisschen kennengelernt zu haben, und das empfinde ich als Privileg.
Das Backhendl war übrigens ausgezeichnet.
Natürlich pflegen Politiker Beziehungen zu populären Fußballern nicht, weil sie sich plötzlich so sehr für Fußball interessieren. Sie wollen vom Image einer erfolgreichen Mannschaft profitieren, logisch.
Bei der Bundeskanzlerin habe ich aber das Gefühl, dass sie wirklich zum Fan der Mannschaft geworden ist. Wie viele Bundeskanzler stehen schon bei uns in der Kabine und trinken Bier aus der Flasche, weil wir gerade ein wichtiges Spiel gewonnen haben? Frau Merkel schon. Wir sehen sie seit Jahren regelmäßig. Ich habe das Gefühl, dass sie in uns irgendwie Schicksalsgefährten sieht: Auch wir stehen permanent in der Öffentlich-keit, die hohe Ansprüche an uns hat. Klar, wir spielen nur Fußball. Aber es gibt in unseren Berufen einige Gemeinsamkeiten, und über die tauschen wir uns aus.
Im Herbst nach der WM 2010 habe ich ein Interview gegeben, in dem ich über die Müdigkeit spreche, die mir nach den anstrengenden Wochen in Afrika in den Knochen sitzt.
»Wissen Sie, Herr Lahm«, sagt die Kanzlerin nach dem Türkei-Spiel. »Ich habe Ihr Interview gelesen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich diese Müdigkeit ganz genau kenne. Sie haben das wirklich sehr anschaulich beschrieben.«
Da bin ich baff. Dass die Kanzlerin auch Interviews mit Fußballern liest.
Auch nach unserem Spiel am 8. Oktober 2010 in Berlin, das wir gegen die Türkei mit 3:0 gewonnen haben, kommt die Kanzlerin in die Kabine. Es ist knapp vor elf Uhr abends. Diesmal kommt sie mit dem Bundespräsidenten und hat zum ersten Mal ihren Fotografen dabei.
Ein paar Spieler stehen unter der Dusche, ein paar sitzen mit nacktem Oberkörper vor ihrem Spind und plaudern, manche föhnen schon ihre anspruchsvolle Frisur. Es riecht nach Schweiß und Massageöl.
Dann ein Ruf: »Achtung, die Kanzlerin und der Bundespräsident kommen.«
Wer gerade noch nackt durch die Kabine lief, schnappt sich das nächste Handtuch, bindet es sich um die Hüfte, und dann ist der Tross schon da.
»Gratulation, meine Herren«, sagt die Kanzlerin, macht die Runde und schüttelt die Hände. »Verdient gewonnen«, sagt sie. »Ein tolles Spiel.«
Als sie Mesut Özil sieht, steuert sie direkt auf ihn zu. Mesut hat heute brillant gespielt und ein Tor geschossen. Vor dem Spiel gab es die bekannten Diskussionen. Sollte er für die Türkei spielen oder für Deutschland? Im Stadion hat es Pfiffe gegeben, wenn er in Ballbesitz war. Ihm wird vorgeworfen, dass er sich als Kind von türkischen Einwanderern nicht für die türkische Nationalelf entschieden hat.
Ich finde gut, dass Mesut für Deutschland spielt. Er ist in diesem Land geboren und aufgewachsen, also ist nichts falsch daran, für Deutschland zu spielen. Deutschland war noch nie ein Land von Menschen, deren Eltern und Großeltern nur Deutsche waren, das ganze Land hat von den Fähigkeiten seiner Einwanderer profitiert.
Die Bundeskanzlerin bedankt sich bei Mesut, der verschämt lächelnd vor ihr steht und nur seine Shorts anhat. Ihm ist es sichtlich peinlich, halb nackt mit der Regierungschefin zu sprechen.
Der kurze Dialog wird vom permanenten Klicken des Fotoapparats begleitet. Wenig später wählen der Fotograf und die DFB-Pressestelle fünf Fotos aus, die Angela Merkel und Bundespräsident Wulff bei ihrem Kabinenbesuch zeigen. Die Zeitungen werden freilich nur ein einziges Bild drucken: das, auf dem die Kanzlerin in ihrer grünen Jacke und Mesut Özil mit nacktem Oberkörper zu sehen sind.
Das Thema Integration ist in der Presse und in der Politik ein Dauerthema. In der Mannschaft aber läuft das Thema nur so mit. Das hat viele Gründe. Der wichtigste ist, dass es im Fußball keine Rolle spielt, woher jemand kommt, welche Färbung seine Sprache hat und welchen sozialen Hintergrund er mitbringt. Hauptsache, er spielt gut. Jeder von uns wird aufgrund seiner
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