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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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irgendwelche Liebesaffären hatte, so sind sie nicht in den überlieferten Klatsch gedrungen, aber nach den Sitten der Zeit zu urteilen, hatte sie welche. Das siebzehnjährige Mädchen aus dem Hochadel, das den ältlichen, gichtigen Guillaume de Machaut verführte nur um des Ruhmes willen, diesen gefeierten Dichter und Musiker als Geliebten besessen zu haben, soll Agnes von Navarra gewesen sein, eine Schwester Karls des Schlechten. Wer immer sie auch war, sie bestand darauf, daß Machaut [Ref 169] ihre Affäre in Liedern und Gedichten und in einem langen,
sinnlichen und kompromittierenden Epos verbreitete, das er Livre du Voir Dit (Eine wahre Geschichte) nannte. Sie neckte und küßte den verwirrten Poeten und gab ihm den kleinen, goldenen Schlüssel zu ihrer Clavette , dem Keuschheitsgürtel, der ihren »kostbaren Schatz« behütete. Wie er später entdeckte, hatte das Mädchen den alten Mann die ganze Zeit zum Narren gehalten und ihren jungen Freundeskreis mit Berichten über den Fortgang der Affäre unterhalten.
    Im Mittelalter wurden Jungen und Mädchen mit fünfzehn oder sechzehn Jahren erwachsen. Hochzeiten fanden gewöhnlich im Alter von vierzehn Jahren statt, es sei denn, es handelte sich um eine hochgestellte Persönlichkeit, die schon im Jugend- oder gar Kindesalter verheiratet worden war. Ein anderes junges Mädchen, die fünfzehnjährige Heldin aus Deschamps Gedicht »Suis-je belle?« – offensichtlich der Gestalt der Agnes von Navarra nachempfunden – , besaß ebenfalls den Schlüssel zu ihrem »Schatz«, aber das war wahrscheinlich eher ein literarisches Echo als eine alltägliche Tatsache. Die Verbreitung des Keuschheitsgürtels im Mittelalter war wahrscheinlich sehr gering, er war wohl eher eine literarische Vorstellung als ein wirklich existierender Gebrauchsgegenstand. Man nimmt an, daß der Keuschheitsgürtel während der Kreuzzüge mit anderen Luxusgütern nach Europa importiert worden ist. Es existieren zwar einige mittelalterliche Modelle, aber jede nichtliterarische Überlieferung – wie z. B. Erwähnung in Gerichtsverfahren – fehlt bis in die Zeit der Renaissance. Als Mittel groben männlichen Besitzdenkens hat der Keuschheitsgürtel die mittelalterlichen Frauen weitaus weniger als ihre Nachfolgerinnen gequält. [Ref 170]
    Deschamps’ sinnenfreudiges Mädchen beschreibt ihre Reize Strophe um Strophe – ein süßer roter Mund, grüne Augen, zierliche geschwungene Augenbrauen, ein rundes Kinn, eine weiße Kehle, feste, hohe Brüste, wohlgeformte Schenkel und Beine, schöne Hüften und einen schönen »cul de Paris« –, und jeder Strophe folgte der Refrain: »Suis-je, suis-je, suis-je belle?« (Bin ich – bin ich – bin ich nicht schön?) Das war die Geliebte eines männlichen Tagtraums, aber Agnes und Boccaccios Fiammetta waren durchaus wirklich, obwohl sie uns – wie fast alle Frauengestalten
des Mittelalters – nur durch die Feder von Männern überliefert sind. Eine Schilderung durch Geschlechtsgenossinnen fehlt fast völlig. Nur die gepeinigte Heloïse des 12. Jahrhunderts und die feministische Christine de Pisan im späten 14. Jahrhundert sprechen zu uns, und beide sind sehr bitter, was aber vielleicht einen falschen Eindruck erweckt. In Individuen wie in Nationen schweigt die Zufriedenheit, und das verschiebt die Gewichte der historischen Überlieferung.
    Da es so etwas wie eine Privatsphäre im mittelalterlichen Leben nicht gab, war wahrscheinlich nur wenig oder gar nichts vor den unverheirateten Mädchen zu verbergen, adlig oder nichtadlig. Daß der Chevalier de La Tour Landry seine Erzählungen über die Sinnlichkeit wirklich zur moralischen Erziehung seiner mutterlosen Töchter geschrieben hat, braucht man ihm nicht unbedingt zu glauben, aber interessant ist, daß er diese Entschuldigung benutzt hat. Sein Buch befaßt sich auch mit Lüsternheit, Unzucht und Vergewaltigung, mit Beispielen aus der Geschichte der Töchter Lots, des Inzests des Tamar und von zeitgemäßeren Begebenheiten wie der Dame, die einen Knappen liebte und, um mit ihm zusammensein zu können, ihrem Mann erzählte, daß sie verschiedene Pilgerfahrten gelobt habe, damit er sie gehen ließe, wie sie wollte. Einer anderen Dame sagt ein Ritter, daß, wenn sie weise und gut sein wolle, sie »nicht zu nächtlicher Stunde ohne Kerze und in der Dunkelheit die Zimmer der Männer betreten solle, um sie zu küssen und mit ihnen im Bett zu kosen«. Offenbar war das Leben auf den Burgen sehr frei. Damen und Ritter

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