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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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als einzige Instanz wachend und überlegen über dem Dilemma stand, in das die Lehre ihre Mitglieder gestürzt hatte.
    » Weh mir, weh mir, daß Liebe ewig Sünde ist!« rief die Frau von Bath aus. Welche Jahrhunderte von Angst und Schuld liegen in dieser kurzen Klage – wenn auch die Dame selbst sich durch das, was sie beklagte, nicht sehr einschränken ließ. Tatsächlich blieb es ihr überlassen, das deutlichste Preislied auf die körperliche Liebe in diesem Jahrhundert zu schreiben. Mehr als in einigen späteren Jahrhunderten wurde die weibliche Sexualität im Mittelalter anerkannt, und die ehelichen Pflichten galten als wechselseitig. Die Theologen beugten sich dem Wort des Paulus: »Der Mann soll dem Weib die Pflicht erfüllen wie auch das Weib dem Manne.« Aber sie bestanden darauf, daß das Ziel Fortpflanzung, nicht Vergnügen sein müsse.
    Die Liebe und den Fortpflanzungstrieb voneinander zu scheiden,
so als könnte man ein flammendes Schwert zwischen die beiden legen, war ein weiteres tollkühnes Gebot, das sich gegen alle menschliche Gewohnheit stellte. Aber das Christentum war nie eine Kunst des Möglichen. Es entsprach den Prinzipien des heiligen Augustinus, daß Gott und die Natur die körperliche Vereinigung von Mann und Frau mit Lust verbunden hatten, »um den Menschen zu dieser Handlung zu bewegen«, damit er für die Erhaltung der Art sorge und zur höheren Ehre Gottes beitrage. Den Geschlechtsakt aber allein um des Vergnügens willen zu vollziehen und nicht zu dem Zweck, den die Natur in ihn gelegt hatte, war, so entschied Augustinus, eine Sünde wider die Natur und damit gegen Gott, den Ordner der Natur. Der Zölibat und die Jungfräulichkeit blieben bevorzugt, da nur sie die uneingeschränkte Liebe zu Gott, »dem Bräutigam der Seele«, erlaubten. [Ref 172]
    Der Kampf mit der Fleischeslust ließ viele unberührt, andere wurden ihr ganzes Leben lang davon gequält. Aucassin hätte unbeeindruckt sogar die Hölle dem Paradies vorgezogen, »wenn ich nur Nicolette, meine süße Geliebte, bei mir haben darf«. Auch die Entstehung des Rosenromans, dieser monumentalen Liebesbibel, die im Laufe des 13. Jahrhunderts in zwei Teilen im Abstand von fünfzig Jahren geschrieben wurde, blieb davon unberührt. Von einem Autor im höfischen Stil begonnen, wurde der Rosenroman von einem anderen in zynisch-weltlicher Manier enorm erweitert. Wenn nach 21 780 Zeilen die komplizierte Allegorie endlich ihr Ende findet, gewinnt der Liebhaber seine Rose, wobei sehr offen dargestellt wird, wie er die Knospe öffnet, die Blütenblätter auseinanderschiebt, ein »wenig Samen in ihrer Mitte verschüttet« und »den Kelch bis in seine innersten Tiefen erforscht«.
    Auf der anderen Seite war Petrarca nach zwanzigjährigem literarischem Geseufze um Laura, währenddessen er zwei uneheliche Söhne zeugte, schon in seinen Vierzigern, »da meine Kraft ungebrochen und meine Leidenschaften noch stark«, soweit, daß er die schlechten Gewohnheiten seines glühenden Temperaments, die er »vom Grunde seiner Seele verabscheute«, abwerfen konnte. Nach diesem »Sieg« über sein Fleisch war er zwar immer noch »ernsten und häufigen Versuchungen« unterworfen, aber er lernte, alle seine Verfehlungen zu beichten, siebenmal am Tag zu beten und
»mehr als den Teufel die Gemeinschaft mit den Frauen zu fürchten, ohne die ich einst nicht leben zu können glaubte«. Er brauchte sich nur zu erinnern, so schrieb er an seinen Bruder, den Mönch, »was die Frau wirklich ist«, um das Verlangen zu vertreiben und seinen gewöhnlichen Gleichmut wiederzuerlangen. »Was die Frau wirklich ist« bezog sich auf die kirchliche Lehre, daß Schönheit bei Frauen trügerisch sei und Falschheit und körperliche Verderbtheit maskiere. »Wo auch immer sich ein schönes Gesicht zeigt«, warnten die Prediger, »lauert viel Schmutz unter der Haut.«
    Die Garstigkeit der Frau wurde im allgemeinen erst gegen Ende des Lebens erkannt, wenn ein Mann sich Sorgen über die Hölle machte und die sexuellen Bedürfnisse ohnehin zu schwinden begannen. Die Lehre selbst verstrickte sich in eine endlose Kette von Widersprüchen. Wenn das Sakrament der Ehe heilig war, wie konnte dann das sexuelle Vergnügen in der Ehe sündhaft sein? Wenn Genuß eine läßliche Sünde war, ab wann wurde er Lüsternheit oder unmäßiges Verlangen, was eine Todsünde war? [Ref 173]
    War eine Schwangerschaft unverheirateter Frauen, obwohl sie der Fortpflanzung diente, sündhafter als ehelicher

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