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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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werfen. Die ganze Nacht hindurch wich Laval dem Herzog nicht von der Seite und verhinderte durch seine Bitten und Überredungskünste, daß dieser Clissons Ermordung befahl. Dreimal gab Montfort den Befehl, ihm den Kopf abzuschlagen oder ihn in einen Sack einzunähen, um ihn zu ertränken, und zweimal hatten die Wachen bereits Clissons Ketten aufgeschlossen, um den Befehl auszuführen. Jedesmal gelang es Laval, auf den Knien den gequälten Herzog zu überreden, indem er ihn daran erinnerte, daß er und Clisson als Kinder zusammen aufgewachsen waren und daß Clisson bei Auray für die Sache des Herzogs gekämpft hatte. Er sagte ihm, daß, wenn er ihn nun töten ließ, nachdem er ihn an seine Tafel und in seine Burg geladen hatte, »kein Fürst entehrter wäre als Ihr . . . gehaßt und verurteilt von aller Welt«. Wenn er aber statt dessen Clisson gestattete, sich auszulösen, könnte er große Summen Geldes gewinnen sowie Städte und Burgen. Laval bot sich selbst als Bürgen dafür an.
    Auf diesen Vorschlag ging Montfort schließlich ein. Er wollte allerdings keine Verpflichtung und keinen Bürgen, sondern 100 000 Franken auf die Hand sowie die Übergabe zweier Städte und dreier Burgen an seine Leute, darunter Josselin, Clissons Heimat. Erst dann war er bereit, den Constable freizugeben. Clisson hatte keine Wahl, er unterschrieb die Bedingungen und blieb im Kerker, während Beaumanoir entsandt wurde, das Geld heranzuschaffen. »Und wenn ich davon berichtete, daß solche Dinge geschahen, und doch nicht alles offenlegen würde«, schrieb Froissart, »dann wäre es zwar eine Chronik, aber nicht Geschichte.«
    Als sich die alarmierende Nachricht vom Verschwinden des Constable verbreitete, nahm man allgemein an, daß er umgebracht worden sei, und schloß daraus sofort, daß nun auch die Reise gegen England »verloren und zerbrochen« sei. In Harfleur dachten Coucy, Vienne und St. Pol keinen Augenblick daran, ohne Clisson aufzubrechen, auch dann nicht, als sich herumsprach, daß er lebte. Die schreckliche Tat Montforts war in aller Munde, und die Beleidigung des Königs, die in der Ergreifung seines Constable lag, hatte Vorrang vor dem Angriff auf England. Die Expedition mit all
ihren Schiffen, Vorräten und Soldaten wurde wie zuvor einfach aufgegeben, und dies so leichthin, daß sich die Frage erhebt, ob die Unterbrechung den Führern nicht auch gelegen kam. Wenn Montforts Tat darauf gerichtet gewesen war, die Invasion zum Scheitern zu bringen, so war sie ein voller Erfolg, aber nicht für Montfort, dem der steinerne Wille des Gian Galeazzo fehlte.
    Wie das Schisma der Kirche, wie das Brigantentum der Ritter, wie die Weltlichkeit der Geistlichen war Montforts Handeln tief destruktiv, weil es grundlegende Glaubenssätze einfach beiseite schob. Es löste große Betroffenheit aus. Ritter und Knappen sagten einander in ihren Diskussionen über den Fall: »Demnach könnte kein Mann einem Fürsten trauen, da der Herzog diese Edelleute betrogen hat.« Was würde der König sagen? Sicherlich hatte es nie zuvor in der Bretagne oder sonstwo einen so schändlichen Fall gegeben. Wenn ein armer Ritter so etwas getan hätte, er wäre für immer entehrt. »Wem sollte ein Mann denn trauen, wenn nicht seinem Herrn? Und dieser Herr sollte ihn versorgen und ihm gerecht werden.« [Ref 333]
    Sofort nach seiner Freilassung galoppierte Clisson, begleitet nur von zwei Pagen, in einer solchen Wut direkt nach Paris, um Genugtuung zu verlangen, daß er angeblich 150 Meilen am Tag zurücklegte und die Hauptstadt in achtundvierzig Stunden erreichte. Der König, der sich in seiner Ehre getroffen fühlte, war sofort bereit, Maßnahmen gegen Montfort zu ergreifen, aber seine Onkel, die noch für ihn regierten, waren deutlich weniger entschlossen, etwas zu unternehmen. Sie schienen Clissons Verlusten gegenüber gleichgültig, sagten ihm, es sei unklug gewesen, Montforts Einladung anzunehmen, besonders praktisch am Vorabend der Einschiffung der Armee nach England, und dämpften den Eifer, mit dem andere Kreise bei Hofe kriegerische Aktionen gegen Montfort forderten. Die Streitfrage riß einen tiefen Graben zwischen zwei Fraktionen in der Regierung – den Onkeln auf der einen Seite und dem Constable, unterstützt von Coucy, Vienne, Rivière, Mercier und dem jüngeren Bruder des Königs, Ludwig, auf der anderen. Coucy bestand darauf, daß der König seine Zuständigkeit anerkennen müsse und Montfort zwingen solle, Clisson zu entschädigen. Die Onkel, die

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