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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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»der letzte und tödliche Schlag« in dem langen Niedergang des alten Römischen Reiches.
    Murad I., der Nachfolger Orchans, eroberte 1353 Gallipoli, den Schlüssel zum Hellespont, und gewann damit einen Stützpunkt auf der europäischen Seite. Genau einhundert Jahre später sollten die Türken auch Konstantinopel einnehmen, aber Kantakuzenos war wie auch andere große Rollenträger der Geschichte blind gegen die Folgen seiner Handlungen. Um die Zusammenarbeit mit seinen neuen Verbündeten zu festigen, verheiratete er seine Tochter in einer moslemischen Zeremonie mit Orchan, überbrückte somit ohne Skrupel – und ohne daß er seinen Glauben davon berühren ließ – den Abgrund zwischen Christenheit und Heidentum. Einige Jahre später, als er zur Abdankung gezwungen wurde, verwandelte sich der einstige Kaiser in einen Mönch und zog sich in klösterliche Stille zurück, um eine Geschichte der Zeit zu schreiben, an deren Verwirrung er so großen Anteil hatte.
    Die chronische Zwietracht in Konstantinopel gab den Türken das Mittel an die Hand, ihren Brückenkopf in Gallipoli zu erweitern.
Nach Kantakuzenos’ Abdankung kehrte sein ehemaliges Mündel, Johannes Palaiologos, auf den Thron zurück (was die verwirrende Thronfolge von Johannes V. auf Johannes VI. erklärt). Er stürzte sich prompt in eine tödliche Familienfehde, in deren Verlauf über die nächsten fünfunddreißig Jahre Söhne und Enkel, Onkel und Neffen einander absetzten, einkerkerten, folterten und ersetzten – alle immer in den verschiedensten Kombinationen mit Murad I.
    Während sie den Palaiologen in ihrer gegenseitigen Vernichtung behilflich waren, expandierten die Türken wie eine Hand, die sich vom Gelenk Gallipoli her öffnete, in die byzantinischen und bulgarischen Territorien hinein. 1365 verlegte Murad I. seine Hauptstadt nach Adrianopel (Edirne), 120 Meilen im Inneren Europas. 1371 schlug er eine Liga aus Serben und Bulgaren an der Maritza in Bulgarien. Johannes V. hielt von da an sein Reich wie die bulgarischen Bojaren als Vasall des Sultans. 1389 versuchte eine neue Liga von Serben, Rumänen und deren nördlichen Nachbarn, den Moldauern, die Türken aufzuhalten, wurde aber von Murad I. in der Entscheidungsschlacht auf dem Amselfeld, dem Grab der serbischen Unabhängigkeit, vernichtend geschlagen. Der serbische Zar und die Elite seines Adels fielen, und sein Sohn war gezwungen, als Vasall des Sultans zu herrschen. Murad I. wurde nach der Schlacht von einem sterbenden Serben getötet, der sich ihm unter dem Vorwand, ihm ein Geheimnis mitteilen zu wollen, genähert hatte und ihm das Messer in den Bauch stieß, als sich Murad über ihn beugte. Der Sultan hinterließ aber seinem Nachfolger Bajasid die stärkste Machtposition in dieser Region. In den fünfunddreißig Jahren, die seit ihrem Überschreiten des Bosporus vergangen waren, hatten die Türken den ganzen östlichen Balkan bis zur Donau überrannt und standen nun an den Grenzen Ungarns. Die Entzweiung ihrer Gegner hatte den Vormarsch der Türken entscheidend begünstigt. Ein Erbe bitteren Mißtrauens hatte Konstantinopel dem Westen entfremdet, seid die westlichen Kreuzfahrer in das östliche Reich eingedrungen waren. Das alte christliche Schisma zwischen der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche, das seinen Ursprung in geringfügigen rituellen Unterschieden hatte – je unwichtiger sie waren, desto tiefer der Groll –,
machte aus den Balkanvölkern Gegner des Westens. Bulgarien, die Walachei (der zeitgenössische Name für Rumänien) und der größere Teil Serbiens bekannten sich zur griechischen Kirche im Gegensatz zu Ungarn, das der lateinischen Kirche angehörte und wegen seiner Versuche, den Nachbarn seine Religion und politische Vorherrschaft aufzuzwingen, gefürchtet war. Mircea, der Woiwode oder Herrscher der Walachei, kämpfte auf dem Amselfeld gegen die Türken, war aber aufgrund alter Auseinandersetzungen nicht geneigt, sich mit den Ungarn gegen den gemeinsamen Feind zu verbinden. Dasselbe traf auf die Serben zu, die ohnedies kaum noch in der Lage waren, sich einer Liga anzuschließen, nachdem sie einmal den Sultan als Lehnsherren anerkannt hatten. Es war Murads Politik gewesen, die Herrscher des Balkans zu neutralisieren, indem er sie auf ihren Thronen ließ, sie aber zur Treue gegenüber dem Türkischen Reich verpflichtete.
    Bajasid hatte nichts von der Energie seiner Vorfahren verloren. Noch auf dem Amselfeld zum Sultan gewählt, begann er seine

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