Der ferne Spiegel
Lollharden noch immer hohe Ämter hielten. Während des Parlaments von 1394 bis 1395 trat die Bewegung plötzlich wieder mit einer zündenden öffentlichen Schrift von zwölf »Schlüssen und Wahrheiten zur Reformation der Heiligen Kirche in England« hervor. Eine in Englisch geschriebene Petition dieser zwölf Reformen wurde, unterstützt von verschiedenen Mitgliedern des Parlaments, unter ihnen der notorische Unruhestifter Sir Richard Stury, als Gesetzesvorlage dem Parlament unterbreitet. Gleichzeitig wurde sie im Blick der Öffentlichkeit an die Türen von St. Paul und der Westminsterabtei genagelt. Die Zwölf Schlüsse waren ein Spiegel der spätmittelalterlichen Kirche, wie sie von den Unzufriedenen gesehen wurde; von jenen, die glauben wollten, sich aber von dem festgefahrenen Materialismus und dem Götzendienst der Kirche abgestoßen fühlten. Es waren dieselben Schlußfolgerungen, zu denen Wyclif früher schon gekommen war, und an der Spitze der Liste standen die beiden, die der Kirche und dem Priestertum am gefährlichsten werden konnten: die Enteignung und die Leugnung des »angeblichen Wunders« der Transsubstantiation. Weitere Riten, die abgelehnt wurden, waren der Zölibat, der zur Lasterhaftigkeit der Priester führte und bei Frauen, die »von Natur aus schwach und unvollkommen« waren, zu vielen schrecklichen Sünden; der Exorzismus, der nichts als der Nekromantie verwandte Gaukelei war; und Pilgerfahrten zu Bildnissen aus Holz oder Stein, die eine Form des Götzendienstes waren. Die zehnte Schlußfolgerung war neu – sie leugnete praktisch das Recht, einen Menschen zu töten. Sie behauptete, daß der Totschlag in der Schlacht oder die Hinrichtung aus irgendeinem weltlichen Grunde auch mit juristischer Deckung eindeutig den Geboten des Neuen Testaments widersprach. [Ref 415]
Die Bischöfe waren über diese Zwölf Schlüsse so alarmiert, daß sie Richard II. aus Irland, wo er sich aufhielt, um neue Unterdrükkungsmaßnahmen einzuleiten, nach Hause riefen. Der König,
außer sich vor Zorn über die Ketzerei, drohte Sir Richard Stury den »übelsten Tod, den es gibt«, an, wenn er den ihm aufgezwungenen Eid des Widerrufs brechen sollte. Die Zwölf Schlüsse aber konnte er nicht umbringen lassen. Das Lollhardentum hatte bereits in Königin Annas böhmischem Gefolge Eingang gefunden und ging dadurch eine Verbindung mit den Ideen des Jan Hus ein.
Richards Heiratsvorschlag, der den französischen Herzögen übermittelt wurde, bevor sie nach Avignon aufbrachen, wurde nicht mit einhelliger Freude begrüßt. Philippe de Mézières war im Interesse des Kreuzzugs begeistert dafür, ebenso wie der Herzog von Burgund, der den Handel mit England im Auge hatte. Aber die Feindseligkeit eines halben Jahrhunderts war nicht leicht auszuräumen. Berry und Orléans waren beide gegen das Projekt, und als der englische Vorschlag im französischen Rat diskutiert wurde, widersetzten sich verschiedene Räte mit der Begründung, daß eine Heirat ohne vorausgehenden Friedensschluß unnatürlich sei. Coucy, wäre er nicht in Italien gewesen, hätte sich dieser Meinung wahrscheinlich angeschlossen. Ein Ereignis am Rande belegt seine Einstellung. Froissart, der einen Besuch in England plante, bat ihn um Empfehlungsschreiben an König Richard und seine Onkel. Coucy lehnte ab, an den König zu schreiben, »da er Franzose sei«, gab Froissart aber einen Brief an seine Tochter Philippa mit auf den Weg. Wenn ein Brief an den König von England politisch ein Ding der Unmöglichkeit war, muß eine französische Heirat des Königs von England tatsächlich als radikale Idee erschienen sein. [Ref 416]
Im Rat sprach sich der Kanzler Arnaud de Corbie für den englischen Vorschlag aus, da das Band der Ehe den englischen König gegen die Kriegspartei im eigenen Lande stärken würde. Das Interesse am Frieden überwog. Am 1. Juli geleiteten zweihundert französische Herren eine vom Earl Marshal Nottingham geführte Gesandtschaft aus England nach Paris und vor den königlichen Rat von Frankreich. Man einigte sich auf eine Mitgift für Isabelle, die 800 000 Franken, aber kein Land vorsah, und auf eine Waffenruhe von achtundzwanzig Jahren. Zum erstenmal war damit ein Waffenstillstand abgeschlossen, der lang genug war, um als ein echter Verzicht auf Kriegsabsichten ausgelegt werden zu können – zumindest auf seiten der Verhandelnden. Dies aber war die Schwierigkeit.
Wenn die Franzosen, auf deren Boden der Krieg ausgefochten worden war, auch
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