Der fliegende Brasilianer - Roman
noch unterwegs, Mademoiselle.
Noch lange?
Der Tag heute ist wunderbar, mit beständigem Wetter. Das wird er wohl ausnutzen, solange es geht.
Enttäuschung macht sich auf dem Gesicht des jungen Mädchens breit.
Aber er kommt noch, Mademoiselle. Ganz bestimmt.
Ich kann nicht lange bleiben. Neuilly ist sehr weit. Wenn ich zum Essen nicht zu Hause bin, merkt meine Mutter, dass ich nicht da bin.
Ich bin sicher, dass er Sie schon bemerkt hat, Mademoiselle.
Sie brauchen nicht zu lügen, Monsieur … Monsieur?
Chapin, zu Ihren Diensten.
Monsieur Chapin, aber Monsieur Santôs ist wegen seines Desinteresses an Frauen noch berühmter als wegen seiner Wundertaten.
Aber Sie sind anders, Mademoiselle.
Das junge Mädchen sieht ihn fragend an.
Anders?
Ja, anders. Sie, Mademoiselle, wollen, wenn Sie mir diese grobe Ausdrucksweise nachsehen, Petitsantôs nicht einfach nur die Flügel beschneiden.
Beschneiden?
Der Mechaniker läuft plötzlich rot an.
Ich meine, Sie wollen meinen Herrn nicht einfach festhalten und ihm die Flügel durch eine Ehe stutzen, Mademoiselle. Nein, Sie sind die erste Frau, Mademoiselle, die hierherkommt und fliegen will, ich meine, richtig fliegen … und nicht in einem andern Sinn, wenn Sie mich verstehen.
Jetzt wird die junge Dame rot und atmet schwer vor Verlangen.
Ja, das stimmt, Monsieur Chapin. Ich will fliegen, ich will an einem Morgen mit blauem Himmel aufsteigen und die Welt von dort oben sehen …
Die anderen lassen von ihrer Arbeit ab und beobachten schweigend die junge Dame, die ihre Arme ausbreitet, als wollte sie da, vor ihren Augen, zum Flug abheben.
Das muss ein unvergessliches Erlebnis sein. Das einen Menschen vollkommen verändert. Sie bemerkt, dass die Männer sie beobachten. Ihre Gesten, ihre Stimme werden plötzlich scheu. Ich bitte vielmals um Verzeihung, Sie verlieren meinetwegen kostbare Zeit. Er kommt wohl so bald nicht zurück … aber ich gebe nicht auf …
Sie macht ein paar Schritte auf die weit geöffnete, große Tür des Hangars zu. Chapin ist enttäuscht, dass sie gehen will.
Mademoiselle?
Die junge Dame dreht sich um.
Ich glaube, ich bin kein guter Lehrer, stimmt’s?
Aber natürlich sind Sie das, Monsieur Chapin. Ich bin Ihnen sehr dankbar.
Aber jetzt wollen Sie keinen Unterricht mehr von einem schäbigen Mechaniker.
Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, Monsieur, aber … Warum nicht? Haben Sie denn Zeit?
So viel Sie wollen …
Während ich Ihren Erklärungen zuhöre, vergeht die Zeit, und vielleicht überrascht er mich hier.
Sie gehen zusammen näher an die Nr. 7 heran.
Das Geheimnis der Luftschiffe von Petitsantôs liegt darin, dass sie klein, aus hochwertigem Material gebaut, leichter und widerstandsfähiger sind. Ein Luftschiff muss nicht viel wiegen, um stabil zu sein …
Die junge Aída betrachtet das Luftschiff, als träumte sie, und hört dennoch aufmerksam den Worten des Mechanikers zu.
Gedächtnisfallen I 30 Jahre später konnte Dazon sich nicht daran erinnern, dass Mademoiselle Aída in Neuilly gewesen war, ehe Petitsantôs sie eingeladen hatte. Und erst recht nicht Gasteau, der sogar Zweifel an dem von Chapin erteilten Unterricht in Luftfahrttechnik äußerte. Sie erinnerten sich, dass der Hangar in Neuilly viel besucht wurde, so wie die Ateliers aller berühmten Künstler der Zeit, aber dass nur dort verkehrte, wer von Petitsantôs persönlich eingeladen war. Keinem Fremden wurde gestattet, das Innere des Hangars zu betreten oder in der Werkstatt herumzugehen.
Gedächtnisfallen II Aída D’Acosta war eine sehr schöne, ausgesprochen südländische und sehr kühne junge Dame, sollte sich Goursat, Sem genannt, erinnern, als er 70 wurde. Ich glaube, sie war Kubanerin. Und es hat etwas sehr Starkes zwischen ihnen gegeben. Leider hat Alberto 1914, als sich eine idiotische Sache abspielte, seine Tagebücher vernichtet. Stellen Sie sich vor, man hat Alberto für einen deutschen Spion gehalten. Nun ja, es war Krieg. Das Tragische daran ist, dass wir nie etwas über Albertos ganz persönliche Dinge erfahren werden, und dazu gehört auch diese mögliche Romanze mit Mademoiselle Aída. Aber ich habe sie persönlich gekannt. Sie war eine temperamentvolle und energische Person. Ich kann mich noch an die Umstände erinnern, als die beiden sich kennenlernten, ich war dabei, aber was danach geschah, ist ein Geheimnis, das nur sie lüften kann …
Orpheus in der Hölle Ein Kammerorchester spielt ein munteres Stück von Offenbach
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