Der fliegende Brasilianer - Roman
Freund so endet.
5. Oktober 1930 – Liebes Tagebuch.
Der liebe Prado hat angerufen und mitgeteilt, dass Albertos Gesundheitszustand sich verschlechtert hat. Man munkelt, er habe einen Selbstmordversuch gemacht. Ich will nicht bösartig sein, aber ich glaube, der Grund dafür war, dass man ihm den Sitz von Graça Aranha in der Academia Brasileira de Letras gegeben hat.
18. April 1931 – Liebes Tagebuch.
Jubiläumsfeier im Esporte Clube Paulistano. Alberto war da. Er strahlte und war gut gelaunt. Wie in den guten alten Zeiten. Wir haben über so manches aus der Vergangenheit gesprochen, und mir schien, dass er geistig klar war und sein Gedächtnis ausgezeichnet funktionierte.
21. November 1931 – Liebes Tagebuch.
Zwei Wochen in Santos. Im selben Hotel, in Begleitung seines Neffen und noch immer sehr elegant, unser lieber Alberto. Aber nicht wiederzuerkennen. Wir haben einmal zusammen zu Abend gegessen, und er hat die ganze Zeit von seinen Erfindungen geredet. Er hat gesagt, er hätte eine Maschine für Alleinflug erfunden und eine Art Floß zur Rettung Ertrinkender.
30. Januar 1932 – Liebes Tagebuch.
Rio de Janeiro. Habe den lieben Prado im Café Colombo getroffen. Er hat erzählt, dass Alberto in Petrópolis ist. Wir sind in die Berge gefahren, um unseren Freund zu besuchen. Das Haus war verschlossen, wir sind zurückgefahren. Sehr eigenartig, dieses Haus, das Alberto als sein »Märchenhaus« bezeichnet. Ich kann daran nichts Märchenhaftes finden, es sieht eher nach was Modernistischem aus.
20. Juli 1932 – Liebes Tagebuch.
Ich sterbe vor Angst wegen dieser blöden Revolution. Gestern Nacht habe ich kein Auge zugetan, weil all diese Flugzeuge am Himmel knatterten. Ich hatte Angst, sie würden Bomben abwerfen. Der liebe Prado hat beim Abendessen reingeschaut und gesagt, Alberto sei in Santos. Wenn es irgend geht, will ich am Wochenende zur Küste runterfahren und meinen Freund besuchen.
Begegnung in Baalbek Die Begeisterung für die alten Pioniere klingt bei Marcel Proust so:
»… Plötzlich bäumte sich mein Pferd auf, es hatte ein fremdartiges Geräusch gehört, und ich hatte einige Mühe, es im Zaum zu halten, um nicht abgeworfen zu werden; ich richtete meinen tränennassen Blick auf den Punkt, von wo das Geräusch zu kommen schien; und ich sah etwa 50 Yards über mir im Sonnenlicht zwischen zwei großen, glänzenden Metallflügeln ein Wesen, dessen unscharfes Antlitz nach dem eines Mannes aussah. Ich war so erschüttert wie ein alter Grieche, der zum ersten Mal einen Halbgott erblickt. Und ich weinte, denn die Tränen standen mir schon in den Augen, seit ich begriffen hatte, dass dieses Geräusch sich oberhalb meines Kopfes näherte – Flugzeuge waren eine Seltenheit in jenen Tagen –, und mir vorstellte, dass ich nun zum ersten Mal ein Flugzeug zu sehen bekäme. So wie wir bei einer Lektüre spüren, dass ein bewegendes Wort naht, wartete ich nur darauf, das Flugzeug zu erblicken, um dann in Tränen auszubrechen. Aber der Flieger schien noch in der Richtung zu zögern. Ich spürte, dass sich ihm – mir, wäre ich nicht Gefangener meines Lebensraumes – sämtliche Wege im Raum öffneten, sämtliche Wege im Leben; er setzte seinen Flug fort, schwebte ein paar Sekunden über dem Meer; dann traf er eine plötzliche Entscheidung, entwickelte eine Kraft, die im Widerspruch zur Erdanziehung stand, und schwang sich, als kehrte er in seine Heimat zurück, mit einer leichten Bewegung seiner goldenen Flügel in den Himmel hinauf.«
Proust gedachte seiner großen Liebe Alfred Agostinelli, der 1914 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
Agostinelli tritt unter dem Namen Albertine in allen sieben Bänden von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« auf.
La mer Als er aufwacht, fühlt er sich prächtig. Lächelnd blickt er auf den Strand von Santos. Das winterliche Meer ist schroff und farblos. Im Nebenbett schläft sein Neffe. Er muss sehr müde sein, denn er hat die ganze Nacht an seiner Seite gewacht.
Leise steigt er aus dem Bett, zieht seinen Morgenmantel über und betrachtet eine Weile seinen Neffen. Die vom Großvater geerbten Züge sind deutlich zu erkennen, der junge Mann ähnelt einem 1870 in Paris aufgenommenen Foto des alten Henrique. Der Neffe hat sich bewegt. Alberto hält fast den Atem an, er will den Jungen nicht aus seinem erholsamen Schlaf reißen. Die letzten Tage sind für ihn anstrengend gewesen.
Auch er ist sehr erschöpft. Im Land herrscht eine Revolution,
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