Der Flirt
Weise erschüttert, die sie ungeschützt, verletzlich und doch gleichzeitig angeregt zurückließ.
Valentine kam vom Piccadilly herüberspaziert, setzte sich neben sie und reichte ihr einen Pappbecher mit Kaffee. »Und …?«
An dieser Stelle zerpflückten die beiden normalerweise das Abenteuer und lachten meistens herzlich über die ganze Angelegenheit. Doch heute runzelte sie die Stirn.
Hughie hatte sie an jemanden erinnert.
»Flick …«
Eine Erinnerung an einen anderen jungen Mann brach an
die Oberfläche, äußerlich ein ganz anderer Typ als Hughie, doch von ähnlichem Eifer und Enthusiasmus.
Es war Jahre her, dass sie das letzte Mal daran gedacht hatte, wie er sie angesehen und wie er sich beim ersten Mal, als sie sich begegnet waren, bemüht hatte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sein Wunsch, mit ihr zusammen zu sein, war augenfällig gewesen; eine starke, körperliche Kraft, die sie unwiderstehlich gefunden hatte. Und sie hatte fast sofort nachgegeben. Ihr Gesicht brannte bei der Erinnerung.
»Flick!« Geduld gehörte nicht zu Valentines Tugenden. »Was ist denn mit dir los?«
Sie zwang sich mit aller Macht, sich auf Valentine zu konzentrieren, und plötzlich dämmerte ihr, was passiert war.
»Ich bin verführt worden!«, sagte sie. »Der kleine Scheißkerl hat mich gerade nach Strich und Faden verführt!«
Valentine zog die Mundwinkel hoch, während er langsam seinen Tee umrührte. »Was du nicht sagst.«
Kopfschüttelnd trank sie einen Schluck Kaffee. Doch er war zu heiß, zu süß und zu stark, und sie stellte den Becher ab. »Er sieht wirklich gut aus«, fügte sie hinzu, »in echt noch viel besser. Ich hatte nicht erwartet, dass er so groß ist. Und dann sein Geruch … keine Spur von einem grässlichen, schweren Eau de Cologne, sondern eine Art saubere, seifige Frische.«
Valentine lachte. »Mary Margaret Flickering, ich glaube wirklich, du bist verknallt!«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Du verstehst das nicht. Da war überhaupt nichts Gezwungenes oder Schmeichlerisches. Mein Gott, er ist sogar errötet! So süß! So schrecklich, schrecklich süß …«
»Ah« - Valentine zog eine Augenbraue hoch -, »aber brauchen wir süß?«
Sie überlegte einen Augenblick.
»Ja«, sagte sie entschlossen, »wir brauchen jemanden, der spontan ist, ein wenig ungelenk. Weder geschliffen, noch besonders raffiniert …« Sie stand auf und zog ihren Regenmantel enger um sich. »Wir brauchen jemand Frischen, Valentine.«
»Wohin gehst du?« Leicht gekränkt erhob er sich ebenfalls. Er war es nicht gewohnt, mit so viel Beiläufigkeit behandelt zu werden; normalerweise war die simple Tatsache, dass er zugegen war, Grund genug, sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher zu sein.
Doch stattdessen reichte sie ihm den Pappbecher mit Kaffee zurück, als wäre er ein Hilfskellner.
»Ich gehe spazieren.« Ihre Stimme war verträumt, versonnen. »Wenn es dir nichts ausmacht, wäre ich gerne ein Weilchen allein.«
Er hatte sie noch nie so abwesend erlebt und schaute ihr hinterher, wie sie den Hügel hinunterging, durch die Platanenallee in Richtung St. James’s, bis er sich ein wenig aufdringlich und lächerlich vorkam und beschloss, genug sei genug, dies sei kein alter Film und er könne gut und gerne einen Drink vertragen.
Flick spazierte durch den Park, trockenes Laub, das seine Farben verloren hatte, raschelte unter ihren Schritten. Ihre Gedanken wanderten wieder in die Vergangenheit und zu ihrem linkischen jungen Geliebten − zu der Art, wie er sie angesehen hatte. Er war der erste Mensch gewesen, der ihr das Gefühl gegeben hatte, berauscht zu sein, durch und durch lebendig und stark. Damals hatte sie sich eingebildet, dieses Gefühl würde immer andauern.
Was für ein Schock es gewesen war, als sie für Männer unsichtbar geworden war, als Männer ihr einfach keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt hatten. Wie demütigend, zu entdecken, dass die Zeit ihr ihre Lieblingsversion von sich
selbst geraubt und sie durch eine schlaffe Frau mittleren Alters ersetzt hatte.
Dann dachte sie an Hughie Venables-Smythes unglaubliche klare blaue Augen. Selbst jetzt spürte sie noch, wie er ihr in die Augen gesehen hatte, sie in sich aufgenommen hatte, sie gesehen hatte.
Und sie lächelte.
Es war Herbst. Das Laub fiel.
Und sie war immer noch liebenswert.
Die Regeln
Gegen Abend drückte Hughie auf die Klingel von Leticias Laden.
»Ich habe dich noch nie im Anzug gesehen«, sagte sie, als sie die Tür aufschloss
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