Der Fluch der falschen Frage
an und stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf. » Das ist die falsche Frage, Snicket. Es gibt wichtigere Dinge als Abendessen. Konzentrier dich auf den Fall.«
Damit verschwand sie im Weißen Torso. Natürlich gab es wichtigere Dinge als Abendessen, aber es war schwierig, sich auf sie zu konzentrieren, wenn man kein Abendessen im Bauch hatte. Ich wartete, bis Theodora in ihrem Zimmer angekommen sein musste, dann ging ich ebenfalls ins Hotel. Wer sollte uns in dieser kleinen, zerfallenden Stadt beobachten?, fragte ich mich. Prosper Weiss stand unter der Statue der armlosen Frau, ein anbiederndes Lächeln im Gesicht. Jetzt wusste ich das Wort wieder, das mir auf der Zunge gelegen hatte. Es war das Wort » servil«, und es bezeichnete Menschen, die sich wie Diener benehmen, obwohl sie gar keine sind. Das hört sich vielleicht angenehm an, ist es aber nicht.
» Ein wunderschöner Abend, nicht wahr, Mr Snicket?«, sagte er.
» Mehr oder weniger«, stimmte ich zu und spähte an ihm vorbei zum Münztelefon. Theodora hatte gesagt, sie hätte im Herrenhaus angerufen, was hieß, das Telefon musste frei gewesen sein. Ich hoffte, es wäre immer noch frei, aber eine Frau mit einer langen Pelzstola um den Hals sprach in den Hörer. » Gibt es hier irgendwo noch ein anderes Telefon?«, fragte ich.
Prosper Weiss zuckte leicht mit den Achseln. » Bedauerlicherweise, nein.«
» Wären Sie vielleicht in der Lage, mich ein Stück zu fahren?«
» Unbedauerlicherweise, ja«, sagte Prosper, » gegen ein kleines Entgelt natürlich.«
Irgendwo gibt es sicher eine Stadt, wo die Flusen in meiner Hosentasche als kleines Entgelt durchgehen würden, aber mein Instinkt sagte mir, dass Schwarz-aus-dem-Meer nicht diese Stadt war. Also sagte ich danke– nicht die dankbare Art von » danke«, sondern die wegwerfende–, und er verzog sich. Ich ging wieder hinaus auf die Straße, wo ich stand und überlegte, was ich jetzt tun sollte, als ein Auto um die Ecke bog und direkt vor mir anhielt. Es war das verbeulte gelbe Taxi, das mir schon früher aufgefallen war. Von nahem sahen die Beulen noch übler aus. Eine Tür war sogar so eingedrückt, dass ich die Schrift darauf nur mühsam entzifferte: Bellerophon Taxi.
» Taxi gefällig, Kumpel?«, fragte der Fahrer, und ich brauchte ein bisschen, um zu begreifen, dass er ein Stück jünger als ich war. Er hatte ein freundliches Lächeln und eine Schorfkruste auf der Backe, als hätte jemand ihn ein wenig zu fest geknufft. Auf seinem Kopf saß eine viel zu große blaue Mütze, auf der ebenfalls Bellerophon Taxi stand, nur weniger verbeult.
» Ich habe dummerweise kein Geld«, sagte ich.
» Ach, das macht nichts«, sagte der Junge. » Seit hier alles den Bach runtergeht, fahren wir auch für einen Apfel und ein Ei.«
» Darfst du in deinem Alter überhaupt schon fahren?«, fragte ich.
» Wir vertreten heute Abend unseren Vater«, antwortete er. » Er liegt krank im Bett.«
» Wir? Wer ist wir ?«
Der Junge winkte mich heran, und ich beugte mich in das Taxi und sah, dass er auf einem Bücherstapel sitzen musste, um das Lenkrad zu erreichen. Unter ihm, auf dem Boden vor dem Fahrersitz, kauerte ein noch kleinerer Junge mit den Händen auf den Pedalen. Sein Lächeln war ein bisschen zu pfiffig, als könnte es ihm mitunter passieren, dass er seinen Bruder etwas zu fest knuffte.
» Wir sind mein Bruder und ich«, sagte er mit sehr hoher Stimme. » Ich heiße Pecuchet Bellerophon, und das ist mein Bruder Bouvard.«
Ich sagte ihnen meinen Namen und versuchte, ihre auszusprechen. » Nichts gegen euch persönlich, aber von euren Namen wird mir die Zunge lahm. Wie sagen die Leute zu euch?«
» Zu mir Boing«, sagte der Bruder oben am Lenkrad, » und zu ihm Quietsch.«
» Weil ich die Bremsen bediene«, quietschte Quietsch.
» Verstehe«, sagte ich. » Also, Boing und Quietsch, ich müsste zum Leuchtturm.«
» Zu den Mallahans?«, sagte Boing. » Kein Problem, rein mit dir.«
Ich betrachtete die Bücher, auf denen er saß. Sie sahen nach Bibliotheksbüchern aus, und manche davon liebte ich sehr. » Aber dürft ihr ganz sicher schon Auto fahren?«, fragte ich noch einmal.
» Darfst du so spät noch unterwegs sein?«, fragte Boing zurück. » Komm schon, steig ein.«
Ich stieg ein, und Quietsch gab Gas. Boing steuerte den Wagen gekonnt durch die zerfallenden, halb verlassenen Straßenzüge von Schwarz-aus-dem-Meer. Ich entdeckte ein Lebensmittelgeschäft, das leer war, aber geöffnet hatte, und ein
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