Der Fluch der Hebamme
selbst die Ungläubigen, von denen sie Jerusalem zurückerobern wollten, würden Gott verehren und sich als die einzig Rechtgläubigen betrachten.
Je länger er darüber nachdachte, umso verworrener wurde die Angelegenheit.
Eines allerdings war Thomas klar: Seinen Zweifel, welcher Glaube nun der einzig wahre war, würde er nie aussprechen dürfen, wollte er nicht sich selbst und seine ganze Familie gefährden.
Er riss den Blick los von den flirrenden Lichtstrahlen, die das Gotteshaus erleuchteten und in denen winzige Staubkörner tanzten und funkelten, und versuchte, in den Gesichtern der Bischöfe zu lesen, die neben Friedrich von Staufen standen.
Überkam sie denn kein Zweifel? Dieses Wunderwerk übertraf jeden ihrer Dome, sei er noch so groß und prachtvoll.
Doch auf den Gesichtern sah er keine Ergriffenheit und schon gar keine Unsicherheit: nur Misstrauen und unverhüllte Ablehnung der Messe, wie der Patriarch sie gerade bei anhaltendem Glockengeläut feierte.
Roland – doppelt getroffen durch den Tod seines Knappen und den Verlust seines Pferdes und noch härter geworden seitdem – schien ebenfalls sprachlos angesichts der Pracht. Doch jetzt sah er zu seinem Freund hinüber und erriet wohl zumindest zum Teil, welche gefährlichen Fragen diesem durch den Kopf gingen.
»Mag sein, sie haben die besseren Baumeister. Doch wir haben den besseren Feldherrn«, sagte er leise zu ihm. »In dieser Kirche werden die byzantinischen Herrscher gekrönt. Aber heute wird hier ein byzantinischer Kaiser in die Knie gezwungen. Also steht Gott auf
unserer
Seite, auf der Seite der wahren Gläubigen! Denn er lässt unseren Kaiser über den Verräter siegen.«
Roland und Thomas kannten die vierzehn Punkte der Übereinkunft zwischen den Kaisern; sie waren am Tag zuvor der Ritterschaft unter großem Jubel bekanntgegeben worden, denn sie kamen einem vollkommenen Sieg gleich.
Doch nun, in der größten und prachtvollsten Kirche auf Erden, in der jedes laut gesprochene Wort von den steinernen Wänden widerhallte und gleichsam vor Gott und der Welt gegeben schien, klangen die feierlich vorgetragenen Friedensvereinbarungen beinahe unglaublich:
Der Kaiser von Byzanz verzichtete nicht nur auf jegliche Entschädigung für alle Verwüstungen, die das Kreuzfahrerheer angerichtet hatte, er würde Sühne für die Misshandlung der Gesandten leisten, Geiseln aus seiner eigenen Familie stellen, er sicherte Proviant, Geleitschutz und Schiffe zu, über die der römische Kaiser das Kommando haben würde, während seine eigene Flotte nicht auslaufen durfte und sein Landheer vier Tagesmärsche Abstand zu halten hatte.
»Ich glaube, wenn er uns nur loswird, stellt sich Isaak Angelos noch höchstselbst ans Ufer und winkt uns zum Abschied«, raunte Roland mit finsterem Spott.
Diese Vorstellung vertrieb auch einen Teil von Thomas’ ehrfurchtsvoller Stimmung. »Jetzt haben wir gesehen, wer von beiden Kaisern das Sagen hat – und es ist nicht der byzantinische«, antwortete er leise und konnte sich diese Häme nicht verkneifen. »Davon wird man vielleicht noch in hundert Jahren reden. Und wir waren dabei!«
Ihr Geflüster fiel kaum auf, denn auch die anderen Ritter kosteten diesen vollkommenen Triumph mit ein paar mehr oder weniger höflichen Anmerkungen aus.
Thomas warf einen Blick auf den Patriarchen Dositheos, der – wenn die Berichte zutrafen – hier an diesem heiligen Ort zum Mord an den Pilgerfahrern aufgerufen hatte. Jetzt trug er eine Miene, als hätte man ihm Essig eingeflößt, und sah immer wieder nach oben. Aber von dort kam keine Rettung. Auch er musste die demütigenden Vereinbarungen anerkennen.
Als die Zeremonie endlich vorüber und der Vertrag besiegelt und beeidet war, atmete Thomas tief durch.
Der Kaiser hatte gewonnen, auch wenn er viele Männer, Pferde und fast ein halbes Jahr Zeit verloren hatte.
Und Konstantinopel würde vom Krieg verschont bleiben.
In den letzten Monaten hatte Thomas so viele Orte in Flammen aufgehen oder in Blut versinken sehen, dass er manchmal dachte, diese Taten würden den Pilgerfahrern trotz aller Versprechen der Geistlichen nie und nimmer vergeben werden.
Die Vorstellung, dass ein Wunderwerk wie die Hagia Sophia bei der Belagerung und Einnahme der Stadt zerstört oder auch nur beschädigt werden könnte, war ihm unerträglich.
Das führte ihn zu Grübeleien, welchen Schaden sie wohl an Heiligtümern anrichten würden, wenn sie um Jerusalem kämpften. Und wie viele Menschen dabei
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