Der Fluch der Maorifrau
und beobachtete die spielenden Kinder. Klara hatte zu ihrem sechsten Geburtstag sechs Kinder eingeladen. »Im nächsten Jahr lade ich sieben ein und im übernächsten acht«, hatte sie ihrer Mutter in dem für sie typischen bestimmten Ton erklärt.
Die Kinder spielten Verstecken und stoben in alle Richtungen davon.
Anna nippte an ihrem Tee und legte die Stirn in Falten. Die Sorgen um die Zukunft ihrer kleinen Familie waren übermächtig geworden. Ohne etwas Genaueres über die Geschäfte ihres Mannes zu wissen, ahnte sie, dass er nicht so erfolgreich war, wie er sich vorgenommen hatte. Ihr entging keineswegs, dass Onkel Rasmus des Öfteren mahnende Briefe schrieb, die Christian jedes Mal mit einem verächtlichen »Was weiß der schon!« vom Tisch fegte. John hatte sein Versprechen gehalten und Christian vor seiner Abreise ins Gewissen geredet, aber nur mit kurzfristigem Erfolg. Zwei Wochen hatten Christians gute Vorsätze gehalten. Dann war alles noch schlimmer geworden; immer häufiger übernachtete er in seinem Haus am Hafen. Doch das war nicht das Schlimmste. Viel schlimmer waren die Nächte, in denen sie sich vor Klaras Zimmertür begegneten, wenn sie ihn daran hindern wollte, das Kind in seinem Zustand zu wecken und zu herzen. Er ließ zwar stets von seinem Vorhaben ab, aber häufig fing sich Anna dabei eine Ohrfeige ein. Und sie wohnten immer noch in der Princes Street, die inzwischen zu einer belebten Straße geworden war. Dunedin hatte sich zur größten Stadt Neuseelands entwickelt und besaß seit kurzem sogar eine eigene Universität, die Universität von Otago. Obwohl die Wirtschaft boomte, waren die Bauarbeiten am Anwesen oben auf dem Berg jedoch eingestellt worden. Christian hatte ihr mit keinem Wort erklärt, wieso, doch Anna ahnte den Grund.
Manchmal wünschte sie sich jemanden zu haben, dem sie anvertrauen konnte, wie öde das Leben an der Seite eines untreuen Trunkenboldes war, doch die Damen der Gesellschaft beäugten sie stets mit äußerster Skepsis, statt ihr die Freundschaft anzutragen.
Anna hatte sich nie als hübsch empfunden, doch die neidgespickten Komplimente der Damen ließen keinen Zweifel daran, dass man sie als verführerische Schönheit betrachtete, die den Männern gefährlich werden könnte. Seit Klaras Geburt hatte sie stets rote Wangen, und sie kämmte ihr dickes Haar nicht mehr so streng zurück wie in Hamburg. John sah sie bei jedem seiner Besuche zärtlich an, aber sie gab stets vor, es nicht zu bemerken. Seit seinem Geständnis beim Abschiedsball waren sie einander niemals mehr nähergekommen.
Das alles ging Anna durch den Kopf, während sie die tobenden Kinder beaufsichtigte.
Ach, John! Ich freue mich so sehr, dich heute zu sehen!, dachte sie, während sie beobachtete, wie ihre Tochter den Freunden Kommandos erteilte. Obwohl Klara so zierlich war, tanzten alle nach ihrer Pfeife, wenn sie ihre Stimme ertönen ließ, die so gar nicht zu ihrer zarten Statur passen wollte. Mit diesem spröden Charme hatte Klara das Herz ihres Vaters erobert. Und das beruhte ganz auf Gegenseitigkeit. Sie hing ebenfalls abgöttisch an ihm. Wenn er an freien Sonntagen mit ihr zusammen war, trank er keinen Tropfen. Diese innige Verbundenheit zwischen Vater und Tochter war nicht zu übersehen und löste in Anna gemischte Gefühle aus. Einerseits war sie heilfroh darüber, dass ihre Tochter mit der Liebe ihres Vaters nahezu überhäuft wurde, andererseits wurde ihr dadurch stets bewusst, dass sie selber diesen Mann niemals geliebt hatte und niemals würde lieben können.
»Mama, ich verstecke mich unter deinem Stuhl.« Damit riss Klara ihre Mutter aus den Gedanken.
Das Kind sprach perfekt Englisch, eine Sprache, die auch Anna inzwischen sicher beherrschte. Sie strich ihrer Tochter über die dunklen Locken und ließ sie unter ihren Sessel kriechen. Wenn Anna es nicht genau wüsste, dass Klara Christians und ihr Kind war, sie würde es selbst nicht glauben. Klara hatte dichtes, lockiges dunkles Haar und eine helle, beinahe durchscheinende Haut. »Ein hübsches Kind«, hörte Anna oft. Ein fremdes Kind, dachte Anna häufig. Sie liebte die Kleine zwar abgöttisch, aber Klara besaß so gar keine Eigenschaft, von der sie hätte sagen können: Sie schlägt nach mir. Nun kam auch Timothy angerannt.
»Tante Anna, wo ist Klara?«, fragte er atemlos.
»Bist du mit Suchen dran? Dann sage ich es dir nämlich nicht!«, gab sie lachend zurück.
»Nein, ich will mich mit Klara zusammen verstecken.«
Anna
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