Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
einem vorbeilaufenden Burschen auszuweichen, schlich sie sich von der Hauptstraße weg und hastete durch die Gassen, vorbei an Gildehäusern mit ihren marmornen Fassaden, bis sie schließlich in einen dunklen, moosbewachsenen Torweg einbog.
Die Straße hinter dem Durchgang war kaum breiter als ein Fußweg. Herabgefallene Schindeln und von Ratten angenagte Knochen verstopften den Rinnstein. Sickerwasser tropfte über die moosbewachsenen Planken der offenen, halbverrotteten Außentreppen und von den magischen Talismanen aus Zinn, die dazu dienten, die Iyats fernzuhalten. Im Gegensatz zu den meisten anderen dieser Kultgegenstände, waren diese jedoch tatsächlich wirksam. Elaira konnte die sanften Schwingungen ihrer schützenden Magie empfangen, während sie sich einen Weg durch die stinkenden Pfuhle, vorbei an fest verschlossenen Fensterläden, bahnte.
Dieses Elendsviertel sollte nach den Bestimmungen der Stadtgesetze nie fähig gewesen sein, überhaupt zu überleben. Es gab keine Weinstuben und keine Händler in den unteren Stockwerken. Keine schmutzigen Kinder spielten in der Gosse, kein Säufer ruhte sich schnarchend von seinem letzten Gelage aus, keine Hure war hier auf der Suche nach Kundschaft, noch lungerten Kopfgeldjäger herum, die einander ihre Narben zeigten und mit ihren Moritaten prahlten. Dies war eine Straße, deren Bewohner der Stadtregent von Erdane verzweifelt auszurotten suchte, doch war sie in dem wirren Labyrinth nahe der Stadtmauern nur schwer zu finden. Auf der Suche nach dem Torweg wurden Reisende leicht abgelenkt. Vielleicht blinzelten sie und verpaßten so den Durchgang, vielleicht lenkte ein Geräusch oder ein Gedanke sie im rechten Augenblick ab; und noch ehe sie es begriffen, waren sie schon längst vorbeigelaufen.
Jeder, der sich nicht auf Zauberei verstand und hier verweilte, und sei es nur für einen kurzen Moment, mußte sich alsbald in einem magischen Gewirr der Täuschungen verlieren.
Elaira fand die Treppe, deren Pfosten mit Schnitzereien verziert waren, die den Vogel Greif darstellten. Hier war das Haus; sie war am Ziel. Sie hätte alles darum gegeben, diesen Ort zu erreichen, nachdem die Korianimatriarchin, der sie die Schriftrollen von der Obersten Zauberin übergeben hatte, ihr von deren Inhalt erzählt hatte. Wenn Elaira recht hatte, dann war der schlimmste Alptraum des Stadtregenten bereits zur Hälfte Wirklichkeit geworden: Ein Zauberer der Bruderschaft und zwei Prinzen von altem Blute befanden sich gerade jetzt in der Stadt Erdane. Elaira stieg die schwankende Treppe hinauf und blieb auf dem Absatz stehen, ehe sie ahnungsvoll erschaudernd an die Tür klopfte und um Einlaß bat. »Ist dies das Haus von Enithen Tuer?«
Ein gedämpftes Klirren, gefolgt von dem Kreischen eines zurückgeschobenen Riegels, antwortete ihr. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, und ein trübes Auge blickte heraus. »Bei Aths Racheengel, es ist eine Zauberin«, krächzte eine rauhe, alte Stimme. »Mädchen, entweder bist du sehr tapfer oder einfach nur dumm.«
Elaira verkrallte ihre Hände in der Verschnürung ihres Umhangs. »Vielleicht einfach dumm«, sagte sie und unterdrückte ein nervöses Lachen. »Werdet Ihr mich einlassen?«
Das Auge blinzelte. »Gut, aber vielleicht wirst du das noch bedauern.«
»Das werde ich bestimmt.« Elaira sah unsicher über ihre Schulter zurück, doch die Gasse lag noch immer verlassen im schwindenden Licht der Abenddämmerung. Niemand beobachtete sie von den verschlossenen Fenstern aus, und dennoch würde ihr verbotener Besuch schon bald bemerkt werden, wenn sie sich zu lange im Freien aufhielt. Als die Tür weiter aufgezogen wurde, trat Elaira ein, und ihre Hast verriet ihre innere Besorgnis.
Die buckelige alte Vettel, die ihr geöffnet hatte, beeilte sich, ihr aus dem Weg zu gehen. »Oje, du bist ohne Erlaubnis gekommen, richtig?«
Elaira schob die Kapuze zurück. Der gemütliche und freundlich möblierte Raum paßte so gar nicht zu der verwahrlosten Straße. Wie eine Kamee hob sich das Gesicht der Zauberin im Kerzenschein von ihrem zweiten Mantel aus schwarzvioletter Seide ab, der unter dem groben Wollumhang zum Vorschein kam. Die zwei Lagen Stoff hatten ihren ordentlichen Knoten geflochtener blonder Haare zerzaust. »Vielleicht möchte ich nur mein Schicksal geweissagt haben.«
Die Alte grunzte. »Du nicht. Außerdem brauchst du gewiß keinen Seher, um zu wissen, daß dein Schicksal sich soeben einer finsteren Zukunft zugewandt
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