Der Fluch des Verächters - Covenant 01
Anschein nach aber keinerlei größere Höhlen umfaßte, keine Abgründe oder Schratbauten. In allen diesen vielfältigen Räumlichkeiten zögerte Lithe kein einziges Mal. Mehrfach schlug sie Wege mit leichter Steigung ein. Doch als der Wirrwarr von Gängen in weitere und schwärzere Räume mündete, in denen Mhorams Flamme weder Decken noch Wände der Höhlen enthüllte, erwiesen sich die Katakomben wieder als feindseliger. Allmählich veränderte sich das Schweigen – verlor die Natur einer Erleichterung, verwandelte sich in die Stille eines Hinterhalts. Die Dunkelheit rings um Mhorams Licht schien immer mehr zu verheimlichen. An den Abzweigungen und Kreuzungen verdichtete sich die Nacht zwischen den Auswahlmöglichkeiten, umwölkte Lithes Instinkt. Sie begann Zweifel zu empfinden. Hinter ihr nahm Prothalls Fähigkeit, Schritt mit der Truppe zu halten, immer mehr ab. Sein heiserer, pfeifender Atem klang immer mühseliger; selbst die ermüdetsten Mitglieder des Aufgebots konnten durchs eigene schwere Schnaufen sein Keuchen hören. Die Bluthüter trugen ihn beinahe. Dennoch drangen sie immer weiter in die kahle Mitternacht vor. Sie trugen den Stab des Gesetzes und den Zweiten Kreis des Wissens mit sich; an ein Aufgeben war gar nicht zu denken.
Endlich gelangten sie in eine weite Höhle, die den Knotenpunkt zahlreicher Abzweigungen bildete. Die allgemeine Richtung, die sie seit ihrem Rückzug aus dem Kiril Threndor beibehalten hatten, fand ihre Fortsetzung genau auf der anderen Seite dieser Höhle. Lithe blieb jedoch mitten in diesem Knotenpunkt so ruckartig stehen, als wäre sie gezügelt worden. Unsicher wog sie ihre Bedenken gegeneinander ab, verwirrt durch die Vielzahl der Möglichkeiten – und durch eine intuitive Ablehnung der einzigen offenkundig naheliegenden Wahl. Sie schüttelte ihren Kopf, als widersetzte sie sich einer Einflüsterung, und stöhnte auf: »Ach, ihr Lords! Ich weiß nicht weiter.«
»Du mußt!« sagte Mhoram barsch. »Es bleibt uns nichts anderes übrig. Die alten Karten verzeichnen diese Gänge nicht. Du hast uns weit über unsere eigene Ortskenntnis hinausgeführt.« Er packte sie an der Schulter, als wolle er eine Entscheidung aus ihr herauspressen. Aber im nächsten Augenblick erfolgte eine Ablenkung durch Prothall. Unter heftigem, krampfartigem Husten brach der Hoch-Lord zusammen. Ein Bluthüter brachte ihn rasch in eine Sitzhaltung, und Mhoram kniete sich an seine Seite, musterte voller eindringlicher Sorge das alte Gesicht. »Dir bleibt nur zu einem kurzen Verschnaufen Zeit«, mahnte Mhoram leise. »Unser Riegel ist längst dahin. Wir dürfen nicht säumen.«
»Laßt mich zurück«, antwortete der Hoch-Lord zwischen Hustenanfällen. »Nehmt den Stab und geht. Ich bin vertan.« Seine Worte versetzten das Aufgebot in Schrecken. Covenant und die Truppe hielten den Atem an, um sich nicht Mhorams Erwiderung entgehen zu lassen. Die Luft war auf einmal voller Anspannung aufgrund der allgemeinen Furcht, Mhoram könne sich mit Prothalls Opfer einverstanden erklären. Aber Mhoram sagte nichts. »Laßt mich hier«, wiederholte Prothall. »Gib mir deinen Stab, dann decke ich euch den Rücken, so gut ich's noch vermag. Geht, sage ich! Ich bin alt. Ich habe meinen Augenblick des Triumphs gehabt. Ich verliere nichts. Nehmt den Stab des Gesetzes und geht!« Mhoram schwieg noch immer. »Mhoram, hör mich an«, röchelte der Hoch-Lord. »Laß dies erhabene Unterfangen nicht an meinen alten Knochen scheitern.«
»Ich höre dich.« Mhorams Stimme klang in seiner Kehle schwerfällig und wund. Er kniete mit gesenktem Kopf beim Hoch-Lord. Einen Moment später richtete er sich jedoch auf, warf den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Sein Lachen war ruhig – ungezwungen, ohne Fiebrigkeit –, ein Gelächter der Erleichterung, frei von Verzweiflung. Die Truppe sah ihn fassungslos an, bis sie begriff, daß er durchaus nicht in Hysterie verfallen war; dann lachte sie mit, ohne zu wissen, warum. Heiterkeit fuhr durch die Herzen wie ein frischer Wind. Covenant dagegen hätte fast laut geflucht, weil er daran nicht teilhaben konnte.
»Ach, Prothall, Dwillians Sohn«, sagte Mhoram zum Hoch-Lord. »Es ist gut, daß du alt bist. Dich zurücklassen? Wie sollte ich denn Freude daran finden, Osondrea von deinen großartigen Taten zu berichten, wenn du nicht dabei bist, um meine Prahlereien zu mildern?« Nochmals lachte er belustigt auf. Dann wandte er sich, als erinnerte er sich erst jetzt wieder an sie, nach
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