Der Fluch des Verächters - Covenant 01
großes Geschenk der Erde. Sie blühen und tragen Früchte in allen Jahreszeiten. Es gibt keine Gegend im Lande, wo sie nicht wachsen – außer vielleicht im Osten, in den Wüstenebenen. Und sie sind von allem, was wächst, die härtesten Pflanzen – sie vergehen zuletzt, und als erste beginnen sie wieder zu wachsen. All das hat mir meine Mutter erzählt, es gehört zum Wissen unseres Volkes.« Sie reichte Covenant eine Traube von Beeren. »Iß«, sagte sie. »Iß und verstreue den Samen über die Erde, damit die Aliantha gedeihe.«
Aber Covenant machte keine Anstalten zum Essen der Beeren. Er war völlig im Staunen aufgegangen, in unbeantwortbaren Fragen bezüglich der sonderbaren Kräfte, die in diesem Land walteten. Für den Augenblick dachte er an keinerlei Gefahren. Lena bemerkte seinen verträumten Blick, nahm schließlich eine Beere und schob sie ihm in den Mund. Unwillkürlich biß er hinein; sofort erfüllte ein leicht süßer Geschmack seinen Gaumen, wie von einem reifen Pfirsich, schwach gewürzt mit Salz und einem Beigeschmack nach Limonellen. Einen Moment später aß er schon mit regelrechter Gier, dachte nur gelegentlich daran, die Samenkörner auszuspucken. Er schlang alle Beeren hinab, die er an dem Strauch fand, und anschließend schaute er sich nach einem anderen Strauch um. Doch Lena legte eine Hand auf seinen Arm, um ihn zurückzuhalten. »Schatzbeeren sind ungemein nahrhaft«, sagte sie. »Man braucht nur wenige davon. Und sie schmecken besser, wenn man langsam ißt.« Aber Covenant verspürte noch mehr Hunger. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so stark nach Nahrung verlangt zu haben, wie er nun nach dieser Frucht gierte; die Empfindung des Essens war noch nie so lebhaft, so gebieterisch aufgetreten. Er entriß Lena seinen Arm, als wolle er sie schlagen, doch dann beherrschte er sich plötzlich. Was ist das? Was ist nun los? Bevor er sich jedoch diese Fragestellung eingehender vornehmen konnte, überkam ihn ein anderes Empfinden – übermächtig starke Schläfrigkeit. Im Zeitraum eines Atemzugs verfiel er nahezu übergangslos von einem Zustand wölfischen Hungers in ein gewaltiges Gähnen, das ihn aus Müdigkeit kopflastig zu machen schien. Er wollte sich umwenden und stolperte. »Das rührt von der Heilerde her«, sagte Lena, »doch hatte ich's gar nicht erwartet. Wenn die Wunden sehr schwer sind, bringt die Heilerde Schlaf über den Leidenden, um die Heilung zu beschleunigen. Aber diese Kratzer an deinen Händen waren keine schweren Verletzungen. Plagt dich irgend etwas, das du mir nicht gezeigt hast?«
Ja , dachte er während eines weiteren Gähnens. Ich bin todkrank . Er war eingeschlafen, noch ehe er ins Gras sank.
Als er allmählich wieder empor an die Oberfläche des Wachseins trieb, war die erste Tatsache, die ihm ins Bewußtsein drang, der Umstand, daß Lenas feste Schenkel seinem Kopf als Kissen dienten.
Nach und nach gewahrte er auch andere Dinge: den Schatten des Baumes, durchsetzt mit Lichtschimmerflecken der im Sinken begriffenen Sonne, den Duft der Kiefern, das Säuseln des Windes, das dichte Gras, in das sein Körper gebettet lag, den Klang einer Melodie, das unregelmäßige Kribbeln, das in seinen Handflächen entstand und wich wie ein Atavismus – aber am wichtigsten war ihm die Wärme von Lenas Schoß an seiner Wange. Im Moment verspürte er nur das Verlangen, Lena in seine Arme zu nehmen und das Gesicht zwischen ihren Schenkeln zu vergraben. Er widerstand der Anwandlung, indem er ihrem Lied lauschte. Sie sang leise und in leicht kindlichem Ton.
»Etwas ist an der Schönheit,
das in des Betrachters Seele
erblüht wie eine Blume
so zart
– denn vielgestaltig gibt es Übel,
um des Betrachters Blick
die Schönheit
zu verdüstern –,
so zart und unvergänglich,
denn mag die Schönheit welken,
mag die Welt zerfallen,
die Seele, da die Blume blüht,
sie lebt.«
Ihre Stimme umhüllte ihn mit einem Bann der Behaglichkeit, und er wünschte sich, er möge nie enden. »Das Lied gefällt mir«, sagte er leise nach einem langen Schweigen voller Kiefernduft und dem Raunen des Windes.
»Wirklich? Das freut mich. Kunstmeister Tomal schrieb es für den Festtanz aus Anlaß seiner Vermählung mit Imoiran, Tochter der Moiran. Oftmals jedoch hängt die Schönheit eines Liedes vom Gesang ab, und ich bin keine Sängerin. Vielleicht wird Atiaran, meine Mutter, heute abend fürs Steinhausen singen. Dann könntest du ein wahrhaftiges Lied vernehmen.« Covenant
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