Der Fluch vom Valle della Luna
in den Zeitungen und im Fernsehen verfolgt. Ich habe Magraja angerufen, aber bei diesem armen Geschöpf kommt man ja nicht weit. Als ich ihr mein Beileid ausgesprochen habe, hat sie mir von dem Kuchen erzählt, den sie gerade für die Mutter bäckt. Völlig neben sich, wie immer. Eine entsetzliche Sache ... Die beiden Jungen Anselmo und Alceo tot, Giancarlino wegen eines furchtbaren Verbrechens im Gefängnis, ein Glück, dass Giacomo tot ist und Lorenza nichts mehr mitkriegt. Ein wahres Glück«, wiederholte sie kopfschüttelnd.
»Signora Anna, ich würde gerne etwas über Ihr Dorf wissen.«
»Über mein Dorf?«
Verständnislos blickte sie Nelly an, die sich vorgebeugt und ihre Hände umfasst hatte.
»Ja, Ihr Dorf. In Sardinien. Das, aus dem Sie alle stammen, Luras.«
»Oh.«
Sandras Mutter verstummte, als hinge sie fernen Bildern und Erinnerungen nach. Dann sagte sie leise: »Ich denke oft an unser Dorf. An meine Jugend, meine Eltern. Das alles erscheint mir wirklicher als ...«, sie ließ den Blick durchs Zimmer wandern, »als das hier. Also, zu meiner Zeit war Luras sehr arm. Richtig arm. Ich bin 1930 geboren, Giacomo 1925, Lorenza, seine spätere Frau, 1926. Wir waren nicht so arm wie die Hirten und Bauern, die von der Hand in den Mund lebten, wir gehörten zu den Bessergestellten. Anselmo Pisu, mein und Giacomos Großvater – unsere Väter waren Brüder – war der Dorfapotheker. Er war auch Bürgermeister gewesen. Einer der angesehensten Bürger des Dorfes neben dem Arzt, dem Lehrer und dem Pfarrer. Er hatte ein paar große Güter und Ländereien, Vieh, die Apotheke und ein schönes Haus im Ort. Außer meinem Vater Rodolfo, dem Erstgeborenen, und Onkel Samuele, Giacomos Vater, hatte er auch drei Töchter. Um sie gut unter die Haube zu bringen und ihnen eine anständige Mitgift zu sichern, hat er sich fast kaputtgerackert. Meinen Vater hat er studieren lassen, Pharmazie. Er sollte die Apotheke übernehmen. Das hat er auch getan, doch leider ist er bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen, als ich erst achtzehn war, und Großvater ist kurz darauf gestorben. Vielleicht aus Kummer. Die verheirateten Tanten sind alle fortgezogen, nach Cagliari, Sassari und Livorno. Onkel Samuele hat gespielt und sich verschuldet, das ist allerdings erst nach Großvaters Tod ans Licht gekommen. Um seine Schulden zu begleichen, hatte Großvater wohl ein paar Güter verkauft, aber genau weiß ich das nicht. Wie auch immer, übrig blieben die Apotheke und das schöne Haus im Dorf, wo wir alle zusammen lebten, doch nach Vaters Tod haben wir die Apotheke aufgeben müssen. Onkel Samuele hat sich darum gekümmert«, sie hielt inne, um zu Atem zu kommen. »Die Hälfte des Erlöses hat er meiner Mutter gegeben oder das zumindest behauptet. Die andere Hälfte hat er behalten und ihr ihren Teil des Hauses abgekauft. Die Tanten waren schon vorher ausgezahlt worden und konnten keine Ansprüche mehr geltend machen. Nur dass meine Mutter stets behauptet hat, ihr Schwager hätte sie betrogen. Übers Ohr gehauen, zusammen mit dem Notar Leonardo Secci. Sie hat das wenige Geld genommen, mit mir die Fähre bestiegen und ist nie mehr zurückgekehrt. In Genua habe ich dann deinen Vater kennengelernt, Sandra, irgendwann bist du gekommen, und den Rest kennst du. Deine Großmutter hat nie gewollt, dass ich ins Dorf zurückkehre, und als sie erfahren hat, dass mein Cousin Giacomo auch nach Genua gezogen war, hat sie mir verboten, auf seine Anrufe zu reagieren oder mit ihm in Kontakt zu treten.«
Sie blickte Sandra entschuldigend an.
»Aber was hatten Giacomo, Lorenza und ich mit dieser alten Erbgeschichte zu tun? Sie waren meine einzigen Verwandten, mit Lorenza war ich seit Kindertagen befreundet, und ich war Witwe, also haben wir nach dem Tod meiner Mutter wieder angefangen, uns zu sehen. Onkel Samuele war gestorben, noch ehe Giacomo und seine Familie Luras verlassen hatten. Man hat ihn mit zertrümmertem Schädel auf den Feldern gefunden, offenbar war er vom Pferd gefallen und auf einen Stein aufgeschlagen. Seine Frau war Jahre zuvor im Kindbett gestorben, das kleine Mädchen hatte nicht überlebt. Es gibt keinen Pisu mehr im Dorf.«
Mit gesenktem Kopf und im Schoß gefalteten Händen saß sie da.
»Für uns Kinder und junge Leute war es schön auf dem Land, aber das ganze Drumherum ... die Atmosphäre ... Ich kann verstehen, dass meine Mutter die Nase voll davon hatte. Und dann gab es da noch eine andere Familie, die etwas gegen uns hatte, eine
Weitere Kostenlose Bücher