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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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schweren Körper auf meinem Rücken schoß noch immer heiß das Blut. Mit aufgerissenen Augen, einen Schrei des Entsetzens in der Kehle, wartete ich auf den zweiten Killer, der ahnungslos immer noch weiterging. Ohne einen Laut ließ ich die reglose Masse von der Schulter gleiten und machte mich aus dem Staub, leichtfüßig durch die Angst. Erst als ich die kotweißen Stufen hinabstieg, wurde mir klar, welche Waffe der Killer bei sich gehabt hatte: ein Hochfrequenz-Operationsmesser, angeschlossen an eine Batterie, die er am Gürtel trug.
    Ich lief zum Wagen, startete und fuhr eine Weile kreuz und quer durch feuchtes Gebüsch, bis ich wieder auf der geteerten Straße war. Nach einer halben Stunde Irrfahrt durch Einbahnstraßen und dunkle Gassen gelangte ich unversehens zur Autobahn Richtung Istanbul. Lange Zeit raste ich mit Vollgas und auf geblendeten Scheinwerfern in die Finsternis.
    Kurz vor der Grenze hielt ich an, denn meine Finger waren klebrig vom Blut, auch mein Gesicht mußte blutverschmiert sein. Im Rückspiegel sah ich, daß meine Lider verkrustet, meine Haare verklebt waren - vom Blut des anderen. Meine Hände begannen zu zittern, und bald griff das Zittern stoßweise auf die Arme, den Unterkiefer über. Ich stieg aus dem Wagen. Es goß noch immer in Strömen. Ich zog mich vollständig aus und stand aufrecht und nackt im Wolkenbruch, spürte die Kühle des Schlamms an meinen Knöcheln und das Prasseln der Tropfen auf meinen Schultern. So stand ich fünf, zehn, zwanzig Minuten im Schauer, und der Regen wusch sämtliche Spuren meines Verbrechens ab. Schließlich kehrte ich in den Schutz des Wagens zurück, suchte frische Wäsche und zog mich wieder an. Die Schnittwunden waren nur oberflächlich. In meiner Reiseapotheke fand ich, was ich brauchte, um meine Handflächen zu desinfizieren und zu verbinden.
    Ich passierte die Grenze ohne Schwierigkeiten, obwohl ich die Aufenthaltsfrist von achtundvierzig Stunden überschritten hatte. Dann fuhr ich weiter. Der Tag brach an, ein Straßenschild zeigte an: Istanbul achtzig Kilometer. Eine Dreiviertelstunde später hatte ich die Istanbuler Vororte erreicht und suchte im Fahren in meinen Unterlagen nach einem bestimmten Punkt, den ich in Paris mittels etlicher Telefonate und Nachfragen als den >strategischem Ort ausfindig gemacht hatte. Meine Karte war recht präzise, und nach nur wenigen Umwegen gelangte ich an mein Ziel, den Höhenrücken oberhalb des Bosporus auf der Seite von Üsküdar mit den beiden Hügeln Büyük und Kücük Camlica.
    Von der Höhe herab wirkte die Meerenge wie ein regloser, erstarrter Strom Asche. In der Ferne erhob sich Istanbul aus dem Dunst, pfeilschlanke Minarette und behäbig in sich ruhende Kuppeln. Ich hielt an. Es war halb sieben Uhr morgens, ringsum herrschte eine weite, klare Stille, angefüllt mit Lauten, die ich liebe: Vogelgezwitscher, ein Blöken hier und dort in der Ferne, das Rauschen des Winds im bewegten Laub. Die Sonne stieg höher und goß ihr gleißendes Licht über das Meer. Ich wartete, das Fernglas in der Hand, den Blick auf den Horizont geheftet. Nicht ein Vogel. Nicht ein Schatten. Eine Stunde verging. Doch dann erschien auf einmal hoch oben am Himmel eine Wolke, die wogte und wimmelte. Schwarz und weiß gefleckt. Das waren sie. Ein Heer von tausend und mehr Störchen schickte sich zur Überquerung des Bosporus an. Noch nie hatte ich ein derartiges Schauspiel erlebt. Ein prächtiges geflügeltes Ballett, weit ausgebreitete Schwingen und gereckte Schnäbel, getrieben von derselben Kraft, derselben Zähigkeit. Eine langgestreckte und leichte Woge, deren Gischt Federn waren und deren einzige Kraft nur der Wind ...
    Vor meinen Augen stiegen die Störche noch höher in den wolkenlosen Himmel, bis sie winzig klein wurden; alle auf einmal überflogen sie dann die Meerenge. Ich dachte an die jungen Störche, die sich in Deutschland auf den Weg gemacht hatten, allein von ihrem Instinkt geleitet. Zum ersten Mal in ihrem Leben triumphierten sie über das Meer. Ich ließ das Fernglas sinken und starrte auf das Wasser des Bosporus.
    Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Menschen umgebracht.

III
DER STORCHENKIBBUZ

16
     
    Von Istanbul aus fuhr ich mit dem Volkswagen bis nach Izmir an der türkischen Westküste, wo ich das Auto der örtlichen Filiale der Leihwagenfirma zurückgab. Die Angestellten waren entsetzt über den Zustand des Fahrzeugs, doch getreu den Verheißungen der Werbebroschüren zeigten sie sich recht

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