Der Flug der Stoerche
konziliant. Anschließend ließ ich mich von einem Taxi nach Kuadasi bringen, zur >Vogelinsel<, einer winzigen Hafenstadt, von der eine Fähre zur Insel Rhodos ging. Wir hatten den ersten September. Um halb acht Uhr abends ging ich an Bord, nachdem ich mich in einem Hotelzimmer geduscht und umgezogen hatte. Ich hielt es für günstig, fortan nur noch unauffällige Kleider zu tragen - T-Shirt, sandfarbene Leinenhosen nebst Weste - und weder den Goretex-Hut noch die Sonnenbrille je abzusetzen: zwei weitere Utensilien, die mir Anonymität gewährleisten sollten. Meine Tasche war unversehrt, ebenso mein Laptop, und die Schnitte an den Händen verheilten bereits. Exakt um 20.00 Uhr verließ ich die türkische Küste. Am nächsten Tag im Morgengrauen bestieg ich am Fuß der Festung von Rhodos ein weiteres Schiff, das nach Haifa, Israel, ging; die Fahrt über das Mittelmeer sollte etwa vierundzwanzig Stunden dauern. Während dieser erzwungenen Kreuzfahrt hielt ich mich ausschließlich an schwarzen Tee.
Marcels Gesicht, zerfetzt durch den ersten Schuß, Yetas durchlöcherter Körper, das kleine Zigeunerkind, getötet durch eine Kugel, die ohne Zweifel mir zugedacht war, - diese Bilder ließen mich nicht mehr los. Drei Unschuldige waren durch meine Schuld umgekommen, aber ich lebte immer noch. Eine Ungerechtigkeit, die mir nicht aus dem Sinn ging und mich mit Rachegedanken erfüllte. Dabei spielte die Tatsache, daß ich einen der Mörder bereits erledigt hatte, in dieser Logik merkwürdigerweise kaum eine Rolle. Ich war der Mann, den irgend jemand um jeden Preis beseitigen wollte, auf dem Weg ins Unbekannte, bereit zu töten oder getötet zu werden.
Ich war entschlossen, den Störchen bis an ihr Ziel zu folgen. Zwar wurde ihre Wanderschaft angesichts der jüngsten Ereignisse durchaus belanglos, aber schließlich waren es die Vögel, die mich auf die Spur der Gewalt gebracht hatten. Und ich war mehr denn je überzeugt, daß die Störche bei all dem eine Schlüsselrolle spielten. Waren die beiden Männer, die versucht hatten, mich umzubringen, nicht die zwei Bulgaren, von denen Joro gesprochen hatte? Und stellte die Waffe meines Opfers, ein Hochfrequenz-Operationsmesser, nicht eine direkte Verbindung zum Mord an Rajko her?
Bevor ich an Bord gegangen war, hatte ich vom Hotel aus das Argos-Zentrum angerufen und erfahren, daß die Störche auf ihrer Route gut vorankamen - eine erste Schar war bis nach Dörtyol im Golf von Iskenderun an der türkisch-syrischen Grenze vorgedrungen. Ihre Fluggeschwindigkeit übertraf alle bisherigen Schätzungen der Ornithologen: diese Störche schafften mit Leichtigkeit zweihundert Kilometer am Tag.
Aber irgendwann würden sie erschöpft sein und, vermutlich in der Umgebung von Damaskus, eine Weile rasten müssen, bevor sie sich erneut auf ihren vorbestimmten Weg machten: die Fischteiche von Bet She’an in Galiläa waren ihre nächste Etappe und damit auch mein nächstes Ziel.
Während der Überfahrt bedrängten mich weitere Fragen. Was hatte ich denn Spektakuläres entdeckt, um den Tod zu verdienen? Und wer hatte die Killer auf mich angesetzt? Milan Djuric? Markus Lasarewitsch? Die Zigeuner von Sliven? Hatte man mich von Anfang an verfolgt? Und was hatte die Organisation Monde Unique mit all dem zu tun? Immer wenn die Spirale von Fragen mir eine Atempause gönnte, bemühte ich mich zu schlafen. Ich saß auf dem Deck, und das Rauschen der Wellen ließ mich kurz einnicken, gleich darauf aber wachte ich wieder auf, und von neuem bestürmten mich Fragen.
Am dritten September um neun Uhr morgens tauchte Haifa aus der staubigen Luft auf. Der Hafen lag auf halbem Weg zwischen dem Industriegebiet und der Wohngegend - über die Hänge des Berges Karmel breitete sich hell und heiter die Oberstadt. Im Glutofen des Kais, auf dem eine wogende Menschenmenge tobte, brüllte, drängte, spürte ich diese heiße, lebendige und würzige Erregtheit, die mir meine Vorstellungen von den orientalischen Handelsniederlassungen in den Abenteuerromanen meiner Kindheit zurückbrachte.
Die Wirklichkeit war freilich weniger romantisch. Israel lag im Kriegszustand. Hier wurde ein Nervenkrieg, ein Verschleißkrieg geführt, voller unterschwelliger Spannungen. Ein Krieg ohne Waffenruhe, geprägt durch jähe Zornesausbrüche und Gewaltakte. Kaum hatte ich einen Fuß an Land gesetzt, traf mich diese Gespanntheit mitten ins Gesicht. Zunächst wurde mein Gepäck gründlich durchsucht. Danach führte man mich in einen kleinen
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