Der Flug der Stoerche
sogar Diamanten. Um neun Uhr tauchte Netanya vor mir auf, eine große helle Stadt direkt am Meer. Ich fuhr die Küstenstraße entlang, eine Aneinanderreihung von Hotels und Kliniken, und begriff den wahren Charakter von Netanya. Hinter ihrer Fassade als Badeort war die Stadt eine Zuflucht für reiche Greise, die hier in der Sonne saßen und sich ausruhten. Schwankende Gestalten, ausgemergelte Gesichter, zitternde Hände. Woran dachten sie wohl, diese vielen alten Menschen? An ihre Jugend, die vielen Jom-Kippur-Feste, die Jahr um Jahr ihr Schicksal als Exilierte aufgeweicht hatten? An die immer wiederkehrenden Kriege, das Grauen der Konzentrationslager, diesen nie endenden Kampf um ein eigenes Land? In Israel war Netanya der letzte Aufschub der Lebenden - der Friedhof der Erinnerungen.
Die Straße mündete kurz darauf rechts in den Atzma’ut Square, von dem die Herzl-Straße abzweigt, die Hochburg der Diamantschleifer. Ich parkte den Wagen und ging zu Fuß weiter. Nach etwa hundert Metern gelangte ich in ein enges, gedrängtes Viertel mit der Atmosphäre eines arabischen Suks, voller Menschen und Lärm und intensiver Gerüche. In die schattigen Gäßchen fiel hier und dort ein Sonnenstrahl, der sich in die Auslagen der Geschäftsinhaber, durch die geschlossenen Fensterläden der Häuser zu stehlen versuchte. Der Duft von Früchten mischte sich mit Schweißgerüchen und dem Aroma von Gewürzen, und ein endloser, hastiger Menschenstrom, in dem die Kippas wie schwarze Sonnen auftauchten und wieder verschwanden, schob sich drängelnd und stoßend durch die Straßen.
Ich war schweißüberströmt, aber meine Jacke konnte ich nicht ausziehen, denn sie verbarg die Glock 21, die ich in einem Holster mit Klettverschluß unter der Achsel trug. Ich dachte an Sarah, die nur wenige Stunden zuvor hier entlanggegangen war, die Tasche voller Diamanten und supermoderner Waffen. An der Ecke der Smilasky-Straße fand ich, was ich suchte: die Diamantenschleifereien.
Die Werkstätten hockten dicht aufeinander, überall roch es nach Staub, und die Schleifmaschinen verursachten einen endlosen schrillen, bohrenden Lärm. Hier hatte das Handwerk alle seine Rechte bewahrt. Vor jeder Tür saß ein Mann, geduldig und konzentriert. Schon im ersten Laden begann ich meine Fragen zu stellen: »Haben Sie eine große, blonde junge Frau gesehen? Die Ihnen Rohdiamanten von großem Wert angeboten hat? Die ihre Steine schätzen lassen oder verkaufen wollte?« Jedesmal dieselbe abschlägige Antwort, derselbe ungläubige Blick durch Bifokalgläser oder eine ins Auge geklemmte Lupe. Die Feindseligkeit des Viertels wurde spürbar. Diamantenschleifer lieben keine Fragen. Auch keine Geschichten. Ihre Rolle beginnt mit der Bearbeitung der Steine, deren Herkunft sie wenig interessiert. Kurz nach Mittag hatte ich fast das gesamte Viertel durchkämmt und nicht das geringste erfahren; nur noch ein paar Werkstätten blieben mir. Kurz vor eins stellte ich zum letztenmal meine Fragen einem alten Mann, der ein perfektes Französisch sprach. Er hielt seine Maschine an und fragte: »War sie mit einem Golfsack unterwegs, die junge Frau?«
Sarah war am Abend zuvor hiergewesen. Sie hatte einen Diamanten auf den Tisch gelegt und gefragt: »Wieviel?« Isaak Knicklevitz hatte den Stein betrachtet und seine Reflexe geprüft, erst bei Licht, dann mit dem Vergrößerungsglas. Er hatte ihn mit anderen Diamanten verglichen und war zu der Überzeugung gelangt, daß der Diamant im Hinblick auf Farblosigkeit und Reinheit ein Wunder sei. Er hatte ihr einen Preis geboten, den Sarah akzeptiert hatte, ohne zu feilschen. Isaak hatte seinen gesamten Tresor geleert und, wie er einräumte, ein exzellentes Geschäft abgeschlossen. Aber er machte sich nichts vor. Er wußte sehr wohl, daß dieses Treffen erst der Beginn des Abenteuers war. Er sagte, wenn ein Stein wie dieser ohne Zertifikat verkauft werde, könne er nur Ärger machen, und er habe schon damit gerechnet, daß früher oder später ein Mann wie ich - oder ein anderer, in offiziellem Auftrag unterwegs - vor seiner Tür stehen würde. Er wisse auch, setzte er hinzu, daß er den Stein vielleicht zurückgeben müsse - es sei denn, ihm bliebe die Zeit, ihn vorher zu schleifen.
Isaak war ein alter Mann mit Adlerprofil und Bürstenschnitt. Sein eckiger Schädel und die breiten Schultern ließen ihn aussehen wie ein Modell für ein kubistisches Bild. Schließlich stand er auf - halb gebückt, denn seine Werkstatt war so niedrig, daß
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