Der Frauenjäger
noch die Marke zu erkennen.
Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihr Vorhaben. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als beide Hände drüben in Position waren und sie das erste Bein hinüberzog. Sie empfand den Moment als furchtbare Demütigung, kam sich vor wie ein Hund am Laternenpfahl. Sekundenlang wurde sie von Scham und Wut regelrecht geschüttelt, es mochte auch eine kräftigte Prise Furcht dabei sein, abzustürzen. Dann spürte sie festen Boden unter der Kniescheibe, nichts gab nach, nichts bröckelte. Sie zog das andere Bein nach, verharrte sekundenlang, atmete mehrfach bewusst ein und aus und beruhigte sich wieder.
Auch auf der anderen Seite war es relativ leicht, der eigenen Kriechspur zu folgen. Sie konzentrierte sich aufs Tasten, ignorierte die langsam, aber stetig lauter werdende Musik und vermied es, Ausschau nach dem grünen Glimmen zu halten. Sollteder Mistkerl doch filmen, sie wollte sich von ihm nicht erneut aus dem Konzept bringen lassen.
Nach nur viermal im Geiste mitsingen –
the morning sun touched lightly on the eyes of Lucy Jordan
und so weiter – schob sie erneut eine Hand ins Leere, diesmal die rechte. Der gegenüberliegende Rand war hier etwas weiter entfernt. Und alles in ihr sträubte sich, noch einmal wie ein Hund am Laternenpfahl mit einem erhobenen Bein über einem Abgrund zu hängen und Blut und Wasser zu schwitzen aus Angst, zu fallen, irgendwo tief unten zu liegen und mit einer Stimme, die vor Atemnot und Schmerz kaum noch ein verständliches Wort zustande brachte, zu sagen: «Ich werde sterben. Mein Bein ist gebrochen.» Oder meine Wirbelsäule oder sonst was.
Wieder ließ sie einen Stein fallen. Zu ihrer Verblüffung schlug er auf, kaum dass sie «einundzwanzig» gemurmelt hatte. Bei zweiundzwanzig hörte sie ihn noch über steinigen Untergrund kullern. Dann setzte Marianne wieder ein und übertönte alles andere.
Es konnte hier nicht so tief sein wie an der anderen Stelle. Doch auf Knien hockend, erreichten ihre Finger keinen Boden. Das war ihr beim ersten Mal ja auch nicht gelungen. Aber die cremeweiße, neue Steppjacke war ihr inzwischen so was von egal.
Sie legte sich bäuchlings hin, schob sich so dicht an die Kante heran, dass sie befürchtete abzurutschen, wenn sie eine falsche Bewegung machte. Dann reckte und streckte sie den Arm nach unten. Und gerade als sie das Gefühl bekam, sich die Schulter zu verrenken, wühlten ihre Fingerspitzen durch losen Dreck und Steinchen.
Sekunden später hatte sie ihre geschundenen Beine über den Grabenrand geschoben, rutschte auf dem Bauch hinterher, bis die Füße festen Boden erreichten. Es war ein bisschen tiefer als erwartet, die Kante reichte ihr bis zur Hüfte, und der Bodenwar zur Mitte des Grabens hin abschüssig. Aber sie traute sich zu, sich auf der anderen Seite wieder hinaufzustemmen. Doch das hatte keine Eile, wo sie nun relativ gut und sicher stand.
Eine komplette Ballade lang reckte und streckte sie sich, drückte die Knie durch, dehnte Waden, Oberschenkel und Oberkörper, wie es auf ihrer Fitness-DVD vorgemacht wurde. Dabei spürte sie zum ersten Mal richtig, wie erschöpft sie war. Durstig, müde, hungrig war sie inzwischen auch. Und nur gegen die Müdigkeit ließ sich etwas unternehmen. Sie beschloss, noch eine Pause zu machen und dabei aus dem wohl weiterhin auf sie gerichteten Sucher einer Wärmebildkamera zu verschwinden. Mal sehen, was passierte.
14. Januar 2010 – Donnerstagabend
Ullas Zeitangaben deckten sich mit denen, die ihre Mutter zum vergangenen Abend gemacht hatte. Trotzdem blieb bei Marlene ein merkwürdiges Gefühl, daran änderten auch Ullas nachfolgende Erklärungen nichts.
Angeblich war Andreas am vergangenen Nachmittag in einen Unfall verwickelt worden. Ob Ulla sie belog oder von Andreas belogen worden war, wagte Marlene nicht zu beurteilen. Passiert sei es auf einer Landstraße nahe Euskirchen, erzählte Ulla. Andreas sei hinter einem Fiat hergefahren, der immer langsamer wurde. Als er überholen wollte, zog der Fiat plötzlich ebenfalls nach links. Andreas konnte zwar noch ausweichen, schrammte jedoch mit dem Motorrad an der Fahrerseite vorbei und kam zu Fall. Am Fiat entstand nur leichter Blechschaden.
Wenn er bisher nicht viel erzählt hatte, musste er sich über den Unfall doch sehr ausführlich ausgelassen haben. Ulla kannte jedes Detail und sprach, als sei sie dabei gewesen.
Den Fiat fuhr eine ältere, stark angetrunkene Frau. Die Schuld lag eindeutig bei ihr. Aber Andreas
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