Der fremde Sohn (German Edition)
her. Dabei waren sie nicht allein. Jemand hatte ihr einen Rollstuhl angeboten, und sie erinnerte sich, dass sie ablehnend den Kopf geschüttelt hatte.
Solange sie ihn nicht gesehen hatte, wollte sie es nicht glauben. »Beweisen Sie es!«, hatte sie geschrien. Im Geiste sah sie sich auf einer Bühne, die entfernt an den Set von Reality Check erinnerte, hörte die Laute des aufgebrachten Publikums hinter sich, das an ihrem Leid Anteil nahm. Sie rief Leah an und versuchte, ihr alles zu erklären.
»Nein«, sagte sie immer wieder. »Nein, nein«, bis jemand sie mit einem leichten Händedruck im Kreuz nach links dirigierte. Da war eine Tür. Die Leichenhalle. Nein, nein, nein …
»Hier hinein.« Sie erkannte die Stimme nicht.
Nein, nein, nein …
Und plötzlich stand sie in dem Raum, neben einem Tisch. Ein weißes Laken.
»Sind Sie bereit, Mrs Kent?«
Nein, nein, nein …
Wie durch eine zähe Flüssigkeit hindurch blickte Carrie den Mann an. Wer sind Sie? Ihre Finger kribbelten, sie spürte ihre Beine nicht mehr. Ihre Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Sie nickte.
Langsam schlug der Arzt das Laken zurück. Die längliche Form darunter verwandelte sich in ihren Sohn. Sie musste an einen Zauberkünstler denken. Es war alles nur ein Trick.
Der zersägte Junge … der auf wundersame Weise schwebende Knabe … wie von Zauberhand verschwunden.
Wieder schmeckte sie Galle im Mund.
Sein Haar war so seidig, als hätte er es am Morgen gewaschen. Ein paar Pickel in seinem noch ein wenig pausbäckigen Gesicht.
»Warum hat er diese Sachen an?«, fragte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.
»Wir haben ihm etwas Sauberes angezogen.«
Der Arzt hatte so etwas wahrscheinlich schon hundertmal gemacht.
»Wo sind seine schmutzigen Kleider?« Er wirkte nicht tot. Eher als schliefe er. Noch nie zuvor war ihr aufgefallen, dass sein Haar einen rötlichen Schimmer hatte. Auch das Piercing in seinem Ohrläppchen – einen winzigen Schädel aus Silber – hatte sie noch nie bemerkt.
»Hilf mir, ihn zu sehen, Carrie.« Brodys Stimme erfüllte den Raum.
Automatisch griff Carrie nach Brodys Händen. Die Frau, die neben ihm stand, versteifte sich und sah angespannt zu, wie Carrie seine Hände auf den Kopf ihres toten Sohnes legte. Brody ließ sie einen Augenblick lang dort liegen, dann umfasste er das Gesicht des Jungen. Mit zwei Fingern strich er an Max’ Nase entlang und zog mit den Daumen ganz leicht die Lippen auseinander. Dann stieß er einen Seufzer aus.
»Miss Kent, wir müssen den Jungen identifizieren – können Sie bestätigen, dass dies Ihr Sohn Max Quinell ist?«
»Er ist es.« Brodys tiefe Stimme klang hohl.
»Miss Kent?« Der Arzt wollte eine Bestätigung von ihr. Die Identifizierung durch einen Blinden zählte nicht.
»Ja«, sagte sie und fühlte sich plötzlich, als stünde sie mit wild klopfendem Herzen in ihrem eigenen Studio im Rampenlicht und würde von dieser Frau in die Mangel genommen … der berühmten Carrie Kent. Mit angehaltenem Atem wartete das Publikum auf ihre Antwort, als könne sie damit über Leben und Tod entscheiden.
Nein, nein, nein …
»Ja. Es ist mein Sohn.«
Detective Chief Inspector Dennis Masters war gerade von seinem abrupt unterbrochenen Gespräch mit Leah zurückgekehrt, da erhielt er die Nachricht. Jetzt saß er vor seinem versammelten Team. Sein Gefühl sagte ihm, dass es kein guter Tag werden würde. Er nahm einen Schluck aus dem Styroporbecher. Der Kaffee war noch zu heiß, aber er brauchte dringend Koffein. Er hatte zu diesem Anlass den größten Besprechungsraum in Beschlag genommen. Kaum zu glauben, schon wieder war jemand in seinem Revier erstochen worden. Die Bevölkerung forderte Antworten. Die Leute wollten Sicherheit, und vor allem wollten sie, dass es endlich aufhörte.
Er rieb sich die Augen. Erst um drei Uhr morgens war er eingeschlafen. Der Scotch hatte auch nicht geholfen, es wohl eher noch schlimmer gemacht. Am Abend zuvor hatte Estelle angerufen und ihr Treffen am Wochenende abgesagt. »Es ist was dazwischengekommen, Daddy«, hatte sie ihm mit trauriger Stimme mitgeteilt. Wahrscheinlich steckte ihre Mutter dahinter.
Masters setzte seine Brille wieder auf und blickte in die Runde. Doch anstelle seines Teams sah er vor seinem geistigen Auge Protestmärsche wütender Bürger, die durch Harlesden zogen, angeführt von den Eltern der ermordeten Kinder. Es reicht!, schrien ihre Transparente. Schluss mit der Gewalt! Ihm kam der Gedanke, den Dienst zu
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