Der fremde Sohn (German Edition)
quittieren. Seit fünfzehn Jahren war die Kriminalpolizei des Bezirks Brent praktisch sein Zuhause, doch noch nie in seiner gesamten Dienstzeit hatte er es mit einer solchen Häufung von Messerstechereien zu tun gehabt. Unter den Jugendlichen hier gehörten Waffen zum Standard. Ohne hätten sie viel zu viel Angst.
Dennis hatte bereits seine besten Detectives von anderen Fällen abgezogen und sie seiner Soko zugeteilt. Es war ihm egal, wem er damit auf den Schlips trat. Mit dem Superintendent würde er sich später herumschlagen, wenn der ihn darauf ansprach – jetzt musste er erst einmal alles tun, was in seiner Macht stand.
»Also, was haben wir?«, wandte er sich düster an die Kollegin neben ihm und überlegte dabei, ob das wohl ein Fall für Carrie wäre. Würde er Beifall ernten dafür, dass er die Taten an die Öffentlichkeit brachte, oder würde man ihn in der Luft zerreißen, weil er Verbrechen verherrlichte? Er nahm sich vor, Carrie später anzurufen und sie zu fragen, was sie von der Idee hielt.
»Wenig«, antwortete Detective Inspector Britton und legte zwei schmale Hefter vor sich auf den Tisch. Ein Dutzend weiterer Detectives hockten in dem tristen Raum auf den Tischkanten und warteten ungeduldig auf ihre Anweisungen, damit sie wieder gehen konnten. »Die Überwachungskamera war kaputt. Nach Aussage eines Mitarbeiters der Schule gibt es eine mögliche Zeugin. Keine Tatwaffe.«
»Und wer ist die mögliche Zeugin?« Dennis schaute auf die Uhr über der weißen Wandtafel. Sie durften keine Zeit verlieren.
»Eine Schülerin namens Dayna Ray.« Britton pustete in ihren Kaffeebecher.
»Wurde sie schon befragt?«
»Nein.« Sie nippte an dem Kaffee und zuckte zusammen.
»Leiten Sie das Übliche in die Wege, Jess«, wies Masters sie an. »Schicken Sie sofort ein Team zur Schule. Sie sollen mit allen reden, mit den Lehrern, Schülern, Hausmeistern und so weiter. Außerdem will ich die Aufzeichnungen aller Überwachungskameras im Umkreis von fünf Kilometern um die Schule. Und sehen Sie zu, dass ich den Autopsiebericht auf dem Schreibtisch habe, wenn ich zurückkomme.«
»Wohin gehen Sie denn?« Jess Britton stellte ihren Kaffeebecher ab.
»Ich will mit dieser Dayna reden.« Masters zog einen Aktenhefter zu sich heran, las die Adresse des Mädchens und nickte.
»Was ist mit den Eltern?« Jess seufzte bei der Aussicht, dass diese unerfreuliche Aufgabe wahrscheinlich ihr zufallen würde.
»Machen Sie das mit Chris und Al aus.« Als DCI Masters den Kopf zurücklegte, knackte es in seinem Genick. Er musste seine besten Leute auf die Hauptzeugen ansetzen, denn er brauchte eine Festnahme, und zwar schnell.
Jess zuckte die Achseln. Sie hatte sowieso keine Lust rauszugehen, da es in Strömen regnete. Sie trat mit der Spitze ihres Stiefels gegen das Stuhlbein. »Dann also bis später, Chef.«
Masters nickte, erhob sich und verabschiedete sich kurz von seinen versammelten Kollegen. Hinter seinem Rücken verzog Jess Britton das Gesicht, genau wie an jenem Tag vor fünf Jahren, als sie erfahren hatte, dass er und nicht sie befördert worden war.
Dennis wusste, was ihn erwartete. Sozialer Wohnungsbau, etwa achthundert Meter von der Schule entfernt, mit dem üblichen, hochtrabend als Park bezeichneten Streifen Brachland, das mit mehreren ausgebrannten Autowracks verziert war. Die Reihen hässlicher Rauputzhäuser boten der hiesigen Jugend einen idealen Kampfplatz. »Die hiesige Jugend«, sagte er noch einmal laut vor sich hin. Himmel, kam er sich alt vor.
Er parkte seinen Wagen vor dem Haus Nummer zwölf, stieg aus, verstaute das Autoradio und sein Handy in der Innentasche seiner ledernen Bomberjacke und zog seine Jeans hoch. Mit röhrendem Motor raste ein Wagen vorbei, aus dem laute Musik schallte. Ein Hund bellte, eine Frau mit mehreren Kleinkindern im Schlepptau lief durch den Regen und starrte Dennis an. Anscheinend hatte sie ihn als Polizisten erkannt.
Offenbar hatte sich jemand die Mühe gemacht, den Vorgarten der Rays in Ordnung zu halten – Masters sah weder rostige Waschmaschinen noch Hundehaufen oder aufgeplatzte Mülltüten. Er klopfte an die grün gestrichene Haustür. Es roch nach Essen. Gerade wollte er noch einmal klopfen, da wurde die Tür geöffnet.
»Ja?«, fragte eine kleine Frau mit zurückgebundenem Haar. Ihr Gesicht war finster, als habe sie gerade mit jemandem gestritten.
»Mrs Ray?« Dennis zückte seinen Dienstausweis. Die Frau warf einen kurzen Blick darauf und schaute dann wieder
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