Der fremde Sohn (German Edition)
würde.
»Nein. Aber wie war es nun wirklich auf dieser Schule?« Sie ließ nicht locker. »Ich kann es mir nicht vorstellen.«
Max beobachtete durch die Scheibe, wie die Church Road in die High Road überging. Er umklammerte fest die Tüte mit den Süßigkeiten und seine Getränkedose. »Nichts für mich«, sagte er nur, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Er wollte nicht riskieren, dass sie die Lust verlor, mit ihm zu knutschen. Außerdem war ein Bus nicht der richtige Ort, um all das wieder ans Licht zu zerren, was er tief in seinem Inneren vergraben hatte.
»Dein Vater muss ja stinkreich sein.«
Max schwieg und versuchte, sich das Haus vorzustellen, in dem Dayna lebte. Vielleicht war es ja nicht einmal ein Haus, sondern nur eine kleine Wohnung. Er malte sich aus, dass ihr Stiefvater im Schichtdienst in der Fabrik arbeitete, während ihre Mutter zu Hause fast verzweifelte, weil das Geld nicht reichte. Vielleicht hatte sie noch ein paar jüngere Brüder, die mit dem Fahrrad auf der Straße herumkurvten, und einen oder zwei Hunde, die sich beim gemeinsamen Fernsehen am Abend im Wohnzimmer breitmachten. Und dann sah er Dayna vor sich, wie sie in dem Zimmer saß, das sie vielleicht mit zwei Geschwistern teilte, umgeben von den Büchern, die sie von ihrem Ersparten gekauft oder in der Bücherei ausgeliehen hatte. Ihm gefiel die Vorstellung, dass sie beide das gleiche Schulbuch lasen und dabei ähnliche Gedanken im Kopf hatten.
»Nee«, antwortete er schließlich und lachte. Seit sie zu ihm gesagt hatte, er rede komisch, bemühte er sich um einen saloppen Ton. »Mein Vater lebt in einer ganz beschissenen Wohnung.«
»Und was ist mit deiner Mutter?«
Max verkrampfte sich. »Die sehe ich nicht so oft.«
»Ich dachte, du wohnst bei ihr.« Dayna riss ihre Coladose auf und schlürfte den überquellenden Schaum vom Rand.
»Schon«, antwortete Max achselzuckend. »Aber sie ist nicht viel zu Hause. Wir kommen nicht so gut miteinander aus.«
Dayna nickte langsam und nachdenklich. »Aber wer hatte dann das ganze Geld für diese stinkfeine Schule? Oder hat es dir ein entfernter Verwandter vererbt?«, fügte sie grinsend hinzu.
»Ich habe ein Stipendium bekommen.« Er hasste es, sie anzulügen.
»Dafür musst du ja ganz schön clever sein.«
Max spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Er öffnete seine Dose, obwohl er sie eigentlich für den Film hatte aufheben wollen. Wenn er trank, brauchte er vielleicht nicht zu antworten. Wenn Dayna – oder sonst irgendjemand an seiner neuen Schule – herausfand, wer seine Mutter war, hatte er verloren. Dann konnte er nur noch das Weite suchen. Allerdings gab es keinen Ort, wohin er hätte flüchten können, jedenfalls nicht in erreichbarer Nähe. Max sah einen Bus in Gegenrichtung vorbeifahren, und plötzlich prustete er einen Mund voll Dr. Pepper auf Daynas Jeans. Er hustete, bis er keine Luft mehr bekam und rot anlief.
»He, was soll das?«
»Entschuldige.« Er hatte nichts, womit sie sich die Hose abwischen konnte, also zog er seinen Pullover aus und rieb damit ihre Beine trocken. »Tut mir wirklich leid.«
Als sie ein paar Minuten später ausstiegen, wollte sich Max am liebsten irgendwo verkriechen und sterben. Dabei wusste er nicht, was schlimmer war: dass er außen auf dem anderen Bus riesengroß das Gesicht seiner Mutter gesehen hatte oder dass Dayna jetzt hinter ihm war und lesen konnte, was auf der Rückseite seines T-Shirts stand.
»Ich ficke mit Losern«, las sie laut und versuchte dabei, belustigt zu klingen.
Max zog seinen feuchten Pullover wieder über, nahm Dayna an der Hand und ging mit ihr zum Kino von Willesden.
Max benahm sich in jeder Hinsicht komisch, fand sie. Er war nicht wie normale Jungs. So fummelte er erfolglos an seiner Brieftasche herum, weil er gleichzeitig noch seine Dose und die Weingummitüte festhalten musste, bis sie ihm lachend die Sachen abnahm. Mit abgewandtem Blick bestand er darauf, für sie beide zu bezahlen, als sei es ihm peinlich oder als wolle er sie nicht in Verlegenheit bringen, und er zahlte mit einer goldenen Kreditkarte. Anschließend verschwand er wortlos für eine halbe Ewigkeit auf der Toilette.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Dayna, als er wieder auftauchte. Am liebsten hätte sie den Arm um ihn gelegt. Seit er sie mit Cola bespuckt hatte, benahm er sich merkwürdig.
»Ja, ja, alles okay.«
»Sollen wir dann reingehen?« Der Duft von Popcorn stieg Dayna in die Nase und erinnerte sie an bessere Zeiten.
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