Der fremde Sohn (German Edition)
die berüchtigte Siedlung auf, die Brody als Wohnort gewählt hatte: grauer Beton, eingeschlagene oder zugenagelte Fenster, abplatzender farbloser Putz an winzigen Balkonen, hier und da ein roter Farbtupfer, wo jemand eine Topfpflanze ans Geländer gehängt hatte, noch mehr Graffiti und jede Menge abstoßende und bedrohlich wirkende Jugendliche, die in den Ecken herumlungerten. Leah konnte es einfach nicht begreifen.
Sie brachte den Wagen zum Stehen und zog die Handbremse an. »Näher dran kann ich nicht parken.« Sie verstand, dass Carrie das Bedürfnis hatte, sich trotz aller früheren Streitigkeiten in die Arme von Max’ Vater zu flüchten. Dennoch hoffte sie, ihre Freundin möge es sich mit dem Besuch bei Brody anders überlegen.
Carrie öffnete die Tür und stieg aus. Leah tat es ihr gleich. Plötzlich erschienen wie aus dem Nichts zwei schlaksige Jungen und bauten sich dicht neben ihnen auf. Sie hatten die Mützen tief ins Gesicht gezogen und trugen Trainingsjacken.
»Soll’n wir drauf aufpassen?«, fragte der eine. Sein Gesicht mit den verkrusteten Pickeln auf der Stirn war schmal, sein Ausdruck wirkte verschlagen, der Blick kalt.
»Verzieh dich. Er ist versichert«, entgegnete Carrie ungerührt und marschierte los. »Nummer 349.«
Ein schmaler Durchgang zwischen zwei Wohnblocks führte in einen Innenhof von der Größe mehrerer Tennisplätze. Carrie und Leah blieben kurz stehen und schauten nach oben. Auf allen vier Seiten ragten fünfstöckige Betonburgen auf.
»Hier würde doch keiner freiwillig leben«, bemerkte Leah, die der abstoßende Anblick kurzfristig von den Ereignissen des Tages ablenkte. Sie war immer noch davon überzeugt, dass Carrie nur hierhergekommen war, weil sie vor Trauer nicht mehr klar denken konnte.
»Mein Exmann schon«, erwiderte Carrie kurz angebunden. »Und mein Sohn auch, wenn er seinen Vater besuchte.« Leah konnte Carries Ärger verstehen – sicher zog sie eine gedankliche Verbindung zwischen der Westmount-Siedlung, den hiesigen Jugendbanden, den Messerstechereien und dem Tod ihres Sohnes. Brody war freiwillig hier, da war es nur natürlich, dass Carrie ihm die Schuld gab. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie es hier aussieht«, flüsterte sie im Weitergehen.
Sie warfen einen Blick auf die Schilder an den vier Ecken des Innenhofes, um herauszufinden, welches stinkende Treppenhaus zur Wohnung Nummer 349 führte. Die meisten der Schilder waren angekokelt oder mit Farbe besprüht, aber schließlich fanden sie den richtigen Aufgang und stiegen in den dritten Stock hinauf. Als sie mit angehaltenem Atem den Laubengang entlanggingen, hielt Carrie sich an Leah fest. Sie mussten über Mülltüten, Fahrräder und Kleinkinder hinwegsteigen, die man wie lästige kleine Hunde zum Spielen vor die Tür gesetzt hatte. Endlich klopfte Leah an Brodys Wohnungstür.
»Kommt einfach rein!«, brüllte Brody von drinnen. Er fühlte sich außerstande, sich zur Tür zu schleppen, um wieder neue Polizeibeamte zu begrüßen, die das Leben seines Sohnes immer weiter zerpflückten.
Er brauchte drei Sekunden, um zu bemerken, dass es nicht die Polizei war.
»Hallo?« Brody stand auf und lauschte, schnupperte, spürte den Schwingungen in der Luft nach. Frauen.
»Ach du großer Gott!« Als er die Worte hörte, wusste er, dass Carrie Kent, seine Exfrau, hier in seinem Wohnzimmer stand und die Katastrophe in Augenschein nahm, die er sein Zuhause nannte.
Brody ließ sich wieder in den Sessel fallen. Er tat so, als sei es ihm völlig egal, was sie dachte. Doch trotz dieser vorgeschobenen Gleichgültigkeit und obwohl es seit Jahren ein Schreckensszenario für ihn war, seine Exfrau könne hier auftauchen, war Brody im Grunde zutiefst erleichtert, dass sie jetzt wirklich hier war. Und ganz gleich, wie sie sich nach außen hin gab und welchen Wirbel der Tod von Carrie Kents einzigem Sohn in der Presse verursachen würde – er wusste, was sie beide im tiefsten Inneren empfanden: tiefe Trauer und grenzenlose Leere.
»Wir haben ihn im Stich gelassen.« Ihre Stimme war ausdruckslos.
»Carrie …«
Das war diese andere Frau, Carries Assistentin bei der Sendung. Mit ihr hatte er schon ein- oder zweimal gesprochen. Brody vergaß nie eine Stimme.
»Wie haben wir unseren Sohn nur erzogen, dass er mit Banden und Messerstechereien zu tun hatte und … und …« Brody stellte sich vor, wie es Carrie angesichts seiner Wohnung die Sprache verschlug, was bei ihr höchst selten vorkam. »Warum?«, beendete sie
Weitere Kostenlose Bücher