Der fremde Sohn (German Edition)
angekommen, tippte sie rasch den Sicherheitscode ein, worauf sich die Stahltür öffnete. Kaum war der Spalt breit genug, schlüpfte Carrie hindurch und eilte so schnell in die Garage, dass Leah ihr kaum folgen konnte.
»Lass mich wenigstens fahren«, sagte sie, als Carrie in den Wagen stieg. »Du bist noch viel zu mitgenommen.«
»Mir geht’s ausgezeichnet«, entgegnete Carrie wenig überzeugend.
»Dann komme ich mit«, beschloss Leah und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Carrie öffnete mit der Fernbedienung das automatische Garagentor und ließ den Wagen langsam vorwärtsrollen, während das Tor hochfuhr. Leah fragte sich, ob Carrie überhaupt noch einen Wagen lenken konnte. Normalerweise ließ sie sich überallhin chauffieren oder nahm, wenn es sein musste, ein Taxi.
Leah hielt sich die Augen zu, als sie mit aufheulendem Motor die Auffahrt hinauf ins Tageslicht rasten. »Langsam, Carrie, um Himmels willen!« Doch Carrie beachtete sie nicht und drängelte sich auf ihrem Weg aus Hampstead heraus rücksichtslos durch den Verkehr. »Wohin fahren wir?«, erkundigte sich Leah.
»Zu Brodys Wohnung.«
Leah erkannte die Stimme ihrer Freundin kaum wieder. Es war so, als habe ein anderer die Herrschaft über Carrie übernommen und erteile ihr Befehle. Keine Spur mehr von der Carrie, die noch am Morgen im Fernsehstudio gewesen war. Überhaupt schien alles aus den Fugen geraten zu sein. Seit der letzten Sendung war noch nicht einmal ein ganzer Tag vergangen, und seitdem hatte Leah eine Besprechung mit dem Sendeleiter und mit Dennis gehabt und außerdem ein Telefonat mit amerikanischen Kollegen geführt, die Carrie im kommenden Monat gern in der Late Show hätten. Jetzt hatte sie das Gefühl, all das liege schon ein Jahr zurück.
»Weißt du überhaupt, wo er wohnt?« Leah war sicher, dass Carrie nicht ein einziges Mal dort gewesen war. Zufällig wusste sie, dass Brody und Carrie in den vergangenen neun Jahren genau drei Mal miteinander gesprochen hatten, und meist war es darum gegangen, dass Max krank war.
»Ich habe seine Adresse in meinem Handy.«
Als die teure, schicke Wohngegend mit ihren Delikatessenläden, Boutiquen und trendigen Restaurants heruntergekommenen Vierteln wich, umklammerten Carries Hände das Lenkrad fester. Hier waren die Fenster mit Brettern vernagelt, die Wohnblocks mit ihren grauen Fassaden stammten aus den Sechzigerjahren, und auf den längst geschlossenen Tankstellen wucherte das Unkraut.
»Meine Güte, bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Leah. Auch die Autos auf der Straße boten hier ein anderes Bild: Statt Range Rover und BMW s parkten getunte Fiestas und Corsas. Als Carrie nicht antwortete, fuhr Leah fort: »Vor ein paar Stunden warst du noch im Krankenhaus. Lass mich doch wenigstens –«
»Gib es auf, Leah!«
Mit heulendem Motor wechselte Carrie die Spur. An einer Ampel bog sie bei Rot links ab und raste verkehrt herum durch eine Einbahnstraße. Kurz darauf hielt sie am Straßenrand und brach in Tränen aus.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich fahren muss.« Sie ließ den Kopf auf das Lenkrad fallen und löste damit die Hupe aus.
Leah stieg aus, ging um den Wagen herum, zog Carrie sanft vom Fahrersitz, beförderte sie auf den Beifahrersitz und schnallte sie an. Dann schaltete sie das Navigationssystem ihres Handys ein und setzte sich hinters Steuer. Wenige Minuten später hatten sie gewendet und schlängelten sich durch den dichten Verkehr. Die Gegend wurde immer deprimierender.
Leah zitterten die Hände, nicht nur vor Anspannung oder aus Unsicherheit, sondern vor allem, weil sie Carrie in den zwanzig Jahren, seit sie sich kannten, noch nie anders als stark erlebt hatte, wie ein Fels in der Brandung.
»Meinst du, das Navi hat sich geirrt?« Sie schaltete in den zweiten Gang herunter und blickte an den Wohnblocks empor. »Hier kann Brody doch unmöglich wohnen.«
»Es ist … so nah …« Carries Stimme klang verändert, als könne sie plötzlich Dinge sehen, für die sie bisher blind gewesen war. »Das hier ist … so nah an meinem Haus.«
Leah war überzeugt, sie müsse eine falsche Postleitzahl eingegeben haben. »Ich verstehe das nicht. Das hier ist die Westmount Road.« Sie deutete auf ein Straßenschild, das vor lauter Graffiti kaum zu entziffern war. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Brody hier irgendwo lebt.« Leah fuhr weiter. Als sie in den dritten Gang schaltete, ruckte der Wagen widerwillig.
Da tauchte in der Ferne wie eine Fata Morgana
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