Der fremde Sohn (German Edition)
sehe meinen Vater nie. Er und meine Mutter haben sich vor ein paar Jahren getrennt. Lorrell ist meine Halbschwester.«
»Blöd, was?«
»Hmmm.« Auch Dayna legte sich hin, aber andersherum. »Hast du Geschwister?«
»Nö, bin ein Einzelkind.« Max streckte die Arme aus und berührte dabei zufällig Daynas Bein. Als sie nicht zurückzuckte, ließ er die Hand darauf liegen. »Wünschst du dir manchmal, sie wären noch zusammen, deine Mum und dein Dad?«
»Himmel, nein!«, erwiderte Dayna, ohne zu zögern. »Die würden sich gegenseitig abmurksen. Du denn?«
Max schwieg. Seine Finger wanderten bis zu Daynas Knie hinauf. »Ständig.« Und mit der Hand auf ihrem Knie, zu schüchtern, um weiterzugehen, stellte er sich das Unmögliche vor: dass er, sein Vater und seine Mutter wieder gemeinsam unter einem Dach lebten.
Freitag, 24. April 2009
L eah folgte Carrie überallhin. Sie setzte sich sogar auf den Rand der Badewanne, als ihre Freundin mal musste.
»Da war so viel Blut. Ein riesiger Fleck.« Carries Gesicht war so bleich, dass sich die Adern unter der Haut abzeichneten. Plötzlich kippte sie vom Toilettensitz und landete auf allen vieren auf dem Boden. Sie konnte nicht einmal mehr weinen. Sofort hockte sich Leah neben sie und fragte: »Willst du ins Bett?«
Mit einem Kopfnicken ließ Carrie sich aufhelfen und in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer führen. Leah deckte das Bett auf, zog Carrie die Schuhe aus und half ihr, sich hinzulegen. Sie war nur noch ein Häufchen Elend. Leah breitete die Bettdecke über ihr aus, bis nicht mehr als ein zerraufter Haarschopf und eine Wange zu sehen waren.
Plötzlich fuhr Carrie hoch, die Augen noch ganz verschlafen. Leah musste die ganze Zeit über bei ihr gesessen haben.
»Wie spät ist es?«
»Fünf«, antwortete Leah mit einem Blick auf die Uhr. »Du hast fast eine Stunde geschlafen. Hast du Durst?«
»Nein.« Schwungvoll warf Carrie die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Sie strich sich die Bluse glatt und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich habe einiges zu erledigen.«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte Leah und stützte Carrie, die auf wackligen Beinen zum Fenster ging.
»Es gibt keine bessere Zeit dafür«, erwiderte Carrie. Ihre Stimme klang nüchtern und entschlossen.
»Wofür denn? Im Augenblick gibt es nichts für dich zu tun, und später wird Brody dir helfen.«
Es schien, als habe der Name ihres Exmannes eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Mit einem Band, das auf dem Ankleidetisch lag, fasste sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, dann ging sie, gefolgt von Leah, ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Anschließend stand sie da, die Hände auf das Waschbecken gestützt, und sah den Wassertropfen nach, die von ihrer Nasenspitze tropften. Sie schaute nicht in den Spiegel – vielleicht brachte sie es einfach noch nicht fertig.
»Ich muss weg.« Carrie tauschte den Rock, in dem sie geschlafen hatte, gegen eine selten getragene Jeans. Nach kurzem Kramen in ihrem Schrank förderte sie ein Paar Schuhe zutage – nicht ihre üblichen hochhackigen Modelle, sondern schlichte Schnürschuhe aus Leinen.
»Vielleicht solltest du besser nicht …« Leah lief ihrer Freundin nach, die das Schlafzimmer verlassen hatte, doch Carrie ließ sich nicht aufhalten.
Immer deutlicher hörte sie Stimmen aus der Küche, doch als sie hereinplatzte, traf sie weder Dennis Masters noch einen seiner engsten Mitarbeiter an. »Wo ist Dennis?«, fragte sie im Befehlston.
Eine junge Polizistin antwortete: »Er ist für heute gegangen, Miss Kent. Aber wir sind hier, um Ihre Fragen zu beantworten und Sie zu informieren –«
»Schön, dann beantworten Sie mir diese Frage.« Carrie beugte sich so weit über den Küchentresen, dass die Polizistin zurückwich. »Wer war bei meinem Sohn, als er starb? Dennis sagte, es gebe einen Zeugen. Ich will wissen, wer es ist. Mit Namen und Adresse.«
»Es tut mir leid, Miss Kent, aber ich weiß es nicht. Und selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich –«
Doch Carrie war bereits hinausgestürmt.
»Wo willst du hin, Carrie? Du kannst doch noch gar keinen klaren Gedanken fassen.« Mit Entsetzen sah Leah, dass Carrie ihre Autoschlüssel aus der Schublade des Dielentischchens nahm.
»Dennis suchen«, rief Carrie. »Oder Brody, den Zeugen … irgendjemanden. Ich will den Mörder meines Sohnes finden.«
Mit raschen Schritten lief sie die Treppe hinunter, die vom Haus direkt in die Tiefgarage führte. Unten
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