Der fremde Sohn (German Edition)
um.
»Warten Sie!« Plötzlich stand das Mädchen vor ihnen. »Sind Sie nicht die Frau aus dem Fernsehen?«
Carrie nickte kaum merklich. Eigentlich wusste sie gar nicht mehr, wer sie war.
»Ich habe Sie gesehen.«
»Ja, das tun viele.« Carrie lächelte schwach und wollte weitergehen. Als das Mädchen sie plötzlich am Arm packte, erschrak sie.
»Nein, ich habe Sie gestern gesehen.« Sie zog heftig an ihrer Zigarette und stieß erneut den Rauch aus. »Gestern an der Schule, nachdem …«
Carrie schüttelte den Kopf. »Wir müssen jetzt gehen.« Sie zog Brody am Ärmel, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
»Ich kam gerade vorbei, als Sie und noch jemand aus einem Wagen gestiegen sind. Sie sahen so … so traurig aus.« Das Mädchen warf die halbgerauchte Zigarette weg. »Machen Sie eine Show über das, was … dort geschehen ist?«
Nach kurzem Zögern fragte Carrie: »Worüber?« Wäre sie bei klarem Verstand gewesen, hätte ihr bewusst sein müssen, dass dieses Mädchen selbstverständlich von der Messerstecherei wusste. Die Schule war nicht weit entfernt, und wahrscheinlich ging sie selbst dorthin. Vermutlich redeten sie in der ganzen Gegend von nichts anderem.
»Über Max. Darüber, dass er erstochen wurde«, erwiderte das Mädchen.
Sein Name hing in der Luft, als sei er leibhaftig anwesend. Ein Auto raste mit dröhnendem Motor vorbei. Auf der anderen Straßenseite schrien Kinder.
»Du kanntest ihn?« Unwillkürlich hob Carrie die Hand, als wolle sie nach dem dünnen Faden greifen, der hauchzarten Verbindung zwischen ihr und diesem Mädchen. Dabei tat es so weh, als habe auch ihr jemand ein Messer ins Herz gerammt.
Das Café war leer bis auf sie selbst und einen alten Mann in der Ecke. Sie nahmen Platz und bestellten Kaffee und Cola, obwohl ihnen gar nicht danach war. Dieses Mädchen hatte ihren Sohn gekannt, und Carrie wollte sie auf keinen Fall gehen lassen, ohne dass sie mit ihr gesprochen hatte.
»Ich bin es selbst. Ich bin Dayna«, sagte sie.
Eigentlich hätte Carrie das nicht mehr überraschen sollen. Dennoch erstarrte sie, den Kaffeebecher in der Hand. Sie nickte schließlich schweigend.
Als die Kellnerin vorbeiging, stutzte und noch einmal zurückkam, um Brody zu begrüßen, hätte Carrie ihn eigentlich fragen müssen, woher die Bedienung ihn kannte, doch sie konzentrierte sich ganz auf dieses Schulmädchen.
»Es ist leer hier«, bemerkte Dayna mit einem Blick auf die Wanduhr. »Sonst ist am Samstagmorgen immer eine Gruppe Kids hier.«
Carrie fragte stirnrunzelnd: »Was willst du damit sagen?«
Das Mädchen starrte auf seine Füße. »Es ist, als wäre jetzt alles tot.«
»O Gott«, ertönte laut und deutlich Brodys tiefe Stimme.
Die Kaffeemaschine hinter ihnen stieß zischend eine Dampfwolke aus.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte Carrie und fügte dann hinzu: »Wer wir sind?«
Dayna zuckte die Schultern. »Sie sind die Frau aus dem Fernsehen.«
Normalerweise hätte ein Teenager, der mit einer der berühmtesten Frauen des Landes in einem Café saß, nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sie um ein Autogramm zu bitten und seinen Freunden eine SMS zu schicken. Stattdessen saß Dayna unbehaglich da, als sei Carrie eine strenge Lehrerin, die sie zufällig beim Einkaufen getroffen hatte.
»Ich bin Max’ Mutter, Dayna. Und das ist sein Vater.«
Langsam verengten sich die Augen des Mädchens. Sie musste sich fragen, warum Max sie nie seinen Eltern vorgestellt oder sie mit zu sich nach Hause mitgenommen hatte. Hatte sie überhaupt gewusst, dass Max’ Mutter berühmt war? Für einen Augenblick klärten sich Carries Gedanken, und sie erkannte: Max hatte nicht gewollt, dass seine Freunde sie kennenlernten.
»Sie sind … Sie sind Max’ Mutter?«
»Ja.« Carrie streckte ihr die Hand entgegen, und Dayna ergriff sie zögernd. Die nikotinfleckigen Finger des Mädchens mit den abgekauten Nägeln bildeten einen auffallenden Kontrast zu Carries milchweißen, sorgfältig manikürten Händen.
»Aber …« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich … Aber er hat doch gesagt …« Daynas Worte endeten in einem erstickten Laut. Dann schwieg sie fassungslos. »Es war alles so schrecklich. Als wäre das Leben mit einem Schlag vorbei.«
Die aufrichtigen Worte des Mädchens trafen Carrie bis ins Mark. Sie nickte, schloss für eine Sekunde die Augen und flüsterte: »So was passiert immer nur anderen Leuten.« Dabei war ihr klar, dass Dayna die Ironie ihrer Worte nicht verstehen konnte.
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