Der fremde Sohn (German Edition)
ausgeblichen, farblos und unwirklich. Ihre Sicht verschwamm, wie sie es bereits kannte, ihre Glieder kribbelten, ihr Mund war staubtrocken, und hinter der Stirn spürte sie das erste Pochen einer Migräne. Sie starrte vor sich hin, zählte und konzentrierte sich auf ihren Atem, wie sie es aus den Büchern gelernt hatte.
Lass dich nicht von ihnen unterkriegen, sagte etwas in ihr. Du bist besser als sie.
Plötzlich sammelte sich Speichel in ihrem Mund. Bitte, jetzt nicht auch noch kotzen, flehte Dayna stumm und griff nach einer staubigen alten Rohrleitung, die hinter den Waschbecken verlief. Sie spürte, wie sich die tröstliche Wärme des Rohrs in ihren Händen, den Armen und schließlich im ganzen Körper ausbreitete. Mit halbgeschlossenen Augen zählte sie immer wieder bis zehn und wiegte sich dabei hin und her, um sich zu beruhigen.
Dann war der Anfall vorbei, so plötzlich, wie er gekommen war. Sie hatte gesiegt. Das war das Einzige in ihrem Leben, worauf sie Einfluss hatte.
Als es klingelte, stand Dayna vom Boden auf und verließ die Toilette. In einer halben Minute würde das Pausenchaos losbrechen und eine halbe Stunde lang anhalten.
Mit raschem Schritt durchquerte sie das Gebäude, ging hinaus und umrundete den Naturkundetrakt. An der Rückseite angekommen, zog sie einen halbgerauchten Joint aus der Tasche und betrachtete ihn. Dabei beschlich sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah sich nach allen Seiten um. Dauernd spionierten sie ihr nach, folgten ihr mit ihren Blicken, lachten sie aus und ließen sie wissen, was für ein Loser sie doch war.
»Bloß nicht heulen, du blöde Kuh«, schalt sie sich selbst, grub die Fingernägel in ihre Handfläche und trat gegen die Mauer. Dann zündete sie den Joint an und zog langsam daran, damit er lange hielt. Für ihren Vorrat hatte sie bei Ebay das Silberarmband verkauft, das ihr leiblicher Vater ihr als Baby geschenkt hatte. Es war die Sache wert gewesen. Schon nach wenigen Zügen fühlte sie sich besser. Als ein paar jüngere Schüler es wagten, näher zu kommen, starrte sie sie wütend an, damit sie sie in Ruhe ließen. Sie hasste sie alle.
Dayna schauderte in dem kühlen frühherbstlichen Wind, der zwischen dem Naturkundetrakt und dem Zaun hindurchpfiff. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und betrachtete sich in der verspiegelten Rückseite. Dann leckte sie einen Finger an und versuchte, das verschmierte Make-up unter ihren Augen abzuwischen. Beim Anblick ihres schwarz-orange gesträhnten Haars dachte sie, dass sie wie eine Wildkatze aussah. Voller Selbstverachtung steckte sie das Handy wieder ein und rauchte ihren Joint zu Ende.
Als es Zeit für die Englischstunde war, schlich sie zurück in die Schule und warf dabei verstohlene Blicke auf die Horden von Schülern, die sich in den Fluren und Klassenräumen zusammengerottet hatten. Sie setzte sich auf ihren Platz und schlug die Bücher auf, die sie gerettet hatte. Ihr Lehrer hatte sie ihr gegeben, weil Dayna, wie er sagte, ein Gefühl für Sprache hatte. Sie solle viel lesen, ein wenig experimentieren, hatte der Lehrer hinzugefügt. Mit gesenktem Kopf machte sich Dayna Notizen zu den Charakteren in Romeo und Julia . Während sie auf ihrem Bleistift herumkaute, wanderte ihr Blick zu dem neuen Jungen hinüber, der ebenfalls arbeitete. Sie überlegte, ob er wohl wie Romeo wäre, wenn sie sich ineinander verliebten.
Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihr Buch, listete die Personen auf und kreiste ihre Lieblingsfiguren rot ein. Sie kritzelte Randbemerkungen, strich die Stellen an, die ihr besonders gefielen, und runzelte die Stirn, wenn sie etwas nicht verstand, diese Sprache, die ihr manchmal wie ein einziges fremdartiges Kauderwelsch erschien. Ein Gefühl für Sprache … Sie dachte an die Worte ihres Lehrers und fragte sich, wieso sie das Leben fiktiver Figuren so gut verstand und ihr eigenes überhaupt nicht.
Carrie Kent war schwer enttäuscht von dem amerikanischen Produzenten. Wollte er wirklich übers Geschäft reden? Unter dem Tisch stieß sie Leah mit dem Fuß an, worauf diese sie stirnrunzelnd ansah. Carrie erwiderte den Blick ebenso finster. Hoffentlich war ihre beste Freundin, Produzentin und rechte Hand zufrieden mit ihr. Sie hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und einen ganzen Abend verplempert, ohne dass sich die geringste Aussicht auf eine eigene Serie im US -Fernsehen ergeben hätte.
Dieser furchtbare Typ hatte nichts zu bieten als irgendeine dämliche Show auf einem obskuren
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