Der Fromme Dieb
Lüstlings zu sein, dem er allzusehr gefiel. Als dritter Sohn eines armen Mannes, mußte er für sich selber sorgen.«
»Ich hoffe doch«, sagte Cadfael, indem er die Flasche noch einmal kräftig schüttelte, um sicherzugehen, daß der Inhalt gut vermischt war, »ich hoffe doch, daß dies nicht sein einziger Grund war, ins Kloster einzutreten.«
»Genau das nehme ich an, auch wenn er es sich selbst nicht eingesteht. Er glaubt, eine höhere Stimme habe ihn aufgefordert, alle Übel dieser Welt zu meiden.« Sie selbst, so vermutete Cadfael, war mit manchem dieser Übel in Berührung gekommen und hatte sie doch eher geringschätzig als ängstlich oder besudelt überstanden. »Das ist auch der Grund, weshalb er so hart daran arbeitet, heilig zu sein«, fuhr sie mit ernster Stimme fort. »Was immer er sich in den Kopf setzt, das führt er mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft aus. Wäre er wirklich überzeugt, so wäre er viel gelassener.«
Cadfael musterte sie erstaunt. »Ihr scheint mehr über meinen jungen Bruder zu wissen als ich«, sagte er. »Und doch hatte ich den Eindruck, als hättet Ihr nicht einmal seine Gegenwart wahrgenommen. Wenn man Euch überhaupt einmal sieht, bewegt Ihr Euch hier in der Klosterenklave wie ein bescheidener Schatten, die Augen stets niedergeschlagen. Wie ist es möglich, daß Ihr auch nur ein Wort mit ihm habt wechseln, geschweige denn die Gedanken des armen Burschen habt lesen können?«
»Rémy hat ihn für die dritte Stimme in einem Trio ausgeliehen. Aber dabei hatten wir keine Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Natürlich sieht uns niemand Blicke oder Worte wec hseln. Das wäre von Übel für uns beide. Er soll Mönch werden und darf sich niemals vertraulich mit einer Frau zeigen, und ich bin eine Leibeigene, und wenn ich mit einem jungen Mann rede, so wird man denken, ich hege Absichten, die nur einer freien Frau zustehen, und könnte versuchen, meine Fesseln abzustreifen. Ich bin es gewohnt, mich zu verstellen, und er ist dabei, es zu lernen. Ihr braucht keinen Schaden zu befürchten. Er hat die Augen allein auf die Heiligkeit gerichtet, auf den Dienst für sein Kloster. Und ich bin eine Sangesstimme. Wir reden über Musik, das einzige, was uns verbindet.«
Wohl wahr, aber doch nicht die volle Wahrheit. Denn wie hätte sie bei zwei so kurzen Begegnungen so viel über den jungen Mann in Erfahrung bringen können? Und warum war sie sich ihrer Einschätzung so sicher?
»Ist es fertig?« fragte sie, sich plötzlich an ihren Auftrag erinnernd. »Er wird schon ungeduldig sein.«
Cadfael reichte ihr die Flasche und füllte Pastillen in eine kleine Holzschachtel. »Ein Löffel, kleiner als die in Eurer Küche, jeden Abend und Morgen langsam schlucken und, wenn nötig, auch tagsüber, aber immer nur im Abstand von drei Stunden.
Und diese Pastillen kann er lutschen, wann immer er will, sie sind gut gegen Heiserkeit.« Und während er ihr die Schachtel gab, fragte er unvermittelt: »Weiß sonst noch jemand, daß Ihr Euch mit Tutilo getroffen habt? Mir gegenüber seid Ihr nicht sehr vorsichtig gewesen.«
Sie hob unbesorgt die Schultern und lächelte. »Sei’s drum.
Aber Tutilo hat von Euch gesprochen. Wir tun nichts Schlechtes, und Ihr werdet uns nichts Schlechtes anlasten. Wo es notwendig ist, nehmen wir uns in acht.« Sie dankte ihm freundlich, und als sie schon an der Türe war, fragte er: »Darf ich Euren Namen wissen?«
Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. »Ich heiße Daalny.
So nannte mich meine Mutter. Ich habe den Namen nie geschrieben gesehen; ich kann weder lesen noch schreiben.
Meine Mutter hat mir erzählt, daß der erste Held ihres Volkes von den westlichen Meeren her nach Irland kam, vom Land der glücklichen Toten her, das sie das Land der Lebenden nennen.
Sein Name war Partholan«, fuhr sie fort, und ihre Stimme hatte für einen Augenblick den rhythmischen, singenden Tonfall der Geschichtenerzähler. »Und Daalny ist seine Königin. Es gab dort damals ein Geschlecht von Ungeheuern, aber Partholan trieb sie gen Norden ins Meer und weiter noch. Aber am Ende kam es zu einer gewaltigen Pestepidemie, und das gesamte Volk des Partholan versammelte sich auf der großen Ebene und starb, und so wurde das unbevölkerte Land dem nächsten Volk überlassen, das aus dem Westen kam. Immer aus dem Westen. Sie kommen von dort, und wenn sie sterben, kehren sie dorthin zurück.«
Sprach’s und verschwand, die Tür weit geöffnet, mit aufrechtem und geschmeidigem Gang im
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