Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
der eines Mannes. Was die Vernunft betraf, musste es sich erst noch erweisen. Schulterlange Haarsträhnen in der satten Farbe von Zimt fielen über sein schmales Gesicht. Die Augen waren zu Schlitzen verschmälert. Grishan knurrte Juvenal an.
„Wer bist du?“
Juvenal hob die Fackel höher. „Ich bin Juvenal. Das Oberhaupt der Garou und der Vater von Gilian.“
Blitzartig schoss eine Hand zwischen den Stäben hervor und haschte nach ihm. Typisch für einen jungen, unerfahrenen Alphawolf. Juvenal war um einen Lidschlag schneller, packte das Handgelenk und drückte zu.
„Sachte. Unsere Bekanntschaft soll doch nicht mit einem Hieb in dein süßes Welpengesicht beginnen. Darin sind wir uns wohl einig.“
Von Einigkeit war Grishan weit entfernt. Mit aller verfügbaren Kraft versuchte er, sich aus dem eisernen Griff zu befreien und renkte sich beinahe die Schulter aus. Er kämpfte wild und stumm und ohne Ergebnis. Juvenal hielt ihn fest und ließ ihn zappeln. Je eher der Jüngere seine Grenzen erkannte, desto leichter wurde der Umgang mit ihm. Während Grishan sich gegen ihn stemmte, machte er eine schnelle Bestandaufnahme der Zelle. Es war ein Bild der Verwüstung. Das Bett war zertrümmert, die Federbetten zerfetzt. Überall flogen Daunenfedern herum. Eine der Flaumfedern wippte in Grishans Haar und gemahnte Juvenal, wie jung er war. Zwischen zwanzig und dreißig Jahre mochte er sein. In diesem Alter war Vernunft ein seltener Lichtblick in einem von Impulsen und Spieltrieb beherrschten Leben. Als ihm das bewusst wurde, ließ Juvenal von Grishan ab. Dieser wich an die Seitenwand zurück und rieb keuchend sein Handgelenk.
„Ich öffne jetzt diese Tür, Junge. Du würdest uns beiden die Sache erleichtern, wenn du herauskommst, ohne wild um dich zu schlagen. Einverstanden?“
Nach kurzem Zögern verkniff Grishan die Lippen und nickte. Der Schlüssel knirschte im Schloss. Die Zellentür quietschte beim Öffnen. Misstrauen glomm in den goldbraunen Augen. Der Jungwolf brauchte eine Weile, ehe er sich entschließen konnte, sich von der Wand in seinem Rücken zu lösen und in den Gang hinauszutreten.
„Wo ist mein Vater?“
Auf diese Frage war Juvenal gefasst. Dennoch fühlte er sich überrannt. Wie sollte er die Tatsache in behutsame Worte kleiden? Alphawölfinnen waren jungen Werwölfen gegenüber voller Sanftmut, wohingegen ihm diese Eigenschaft völlig abging. Er rang um die richtigen Worte.
„Was ist passiert? Weshalb bist du hier? Du lebst in Spanien, das weiß ich von Vater. Wo ist er?“
Fragen über Fragen. In Juvenals Kehle ballten sich die Silben einer Antwort zu einem Knäuel. Er legte sacht eine Hand auf Grishans Schulter. „Gilian ist oben. In der Bibliothek. Er …“
Grishan wirbelte herum und schoss davon. Für einen Moment schloss Juvenal die Augen. Gründlich vermasselt. Dann jagte ein Stoß aus Panik durch ihn hindurch. Grishan hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Er musste vorbereitet werden. Juvenal eilte ihm nach. Als er die Stufen nach oben nahm, hörte er Sanchos alarmierten Ruf.
„Warte! Bleib stehen!“
Grishan war weder aufzuhalten noch einzuholen. Die Flügeltüren der Bibliothek krachten an die Wand. Dicht hinter ihm und doch zu spät, um einzugreifen, lief Juvenal in den Raum. Der Jüngere stand vor dem Tisch, auf dem Gilian aufgebahrt war. Seine Miene glich der eines verstörten Welpen. Schreck zerrte an seinen Mundwinkeln. Vorsichtig berührte er Gilians Schulter.
„Das kann nicht sein. Vater? Wach auf!“ Grishan beugte sich vor, umfasste Gilians Kopf und legte seine Stirn gegen die seines Ziehvaters. „Wach auf. Bitte, wach auf.“
Die Bitte blieb unerfüllt. Juvenal sah mit brennenden Augen auf den bebenden Rücken des Jüngeren. Grishan weinte. Ein eigentümliches Maunzen kam aus seiner Kehle. Gegen so viel Verzweiflung war er machtlos. Schwer sank er an die Wand, legte den Hinterkopf dagegen und starrte blind zu den Dachbalken auf. Sancho und Melody gesellten sich zu Grishan und wischten sich die Augen. Noch mehr Tränen. Juvenal musste es beenden, bevor Gelee aus seinen Beinen wurde und er zusammenbrach.
„Sancho, ist alles vorbereitet?“
„Ja, Herr. Hinten im Garten.“
Juvenal trat an den Tisch. Bleigewichte schienen um seinen Fußknöcheln zu liegen und erschwerten jeden Schritt. „Wir müssen uns von ihm verabschieden, wie es der Brauch verlangt, Grishan.“
Lautstark zog Grishan die Nase hoch und ließ von Gilian ab. Er wischte die Tränenspuren aus
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