Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
auszudörren. Gilian hatte Melody verprügelt und ein Gebot der Sippen übertreten. Von Ehre konnte keine Rede sein. Ungläubig glotzte Sancho auf die Lederschlaufen. Er war zu Recht schockiert, denn ein Omega war kein Prügelknabe. Seine Pflicht war es, im Rudel für Harmonie zu sorgen. Sei es, dass er durch Scherze ablenkte oder auch gelegentlich Knuffe einsteckte. Wäre Sancho jemals von einem anderen ernsthaft verletzt worden, Juvenal hätte den Übergriff mit aller Härte bestraft. So hielt es jeder Alphawolf mit seinem Rudel. Außer offensichtlich Gilian.
„Aber das ist …“, hob Sancho stockend an und klappte flugs den Mund zu.
Stumm beendete Juvenal den begonnenen Satz. Es war krank. Verwerflich und abscheulich krank. Was hatte Gilian dazu getrieben? Kein Alphawolf verging sich an Schwächeren. Mit seinem Biss hatte er eine Sterbliche in eine Rudelwölfin verwandelt und Verantwortung für sie übernommen. Anstatt für sie zu sorgen, hatte er ihre Fügsamkeit ausgenutzt. Vermutlich hatten ihr nur sein Biss und die Verwandlung erlaubt, die Prügel zu überleben. Juvenal wusste von Menschenkindern, die den Schmerz suchten und begrüßten. Vielleicht gehörte Melody zu ihnen. Dennoch blieb die Brutalität seines Sohnes beschämend.
Kurz darauf kehrte Grishan mit den Seilen zurück, und das Thema wurde fallen gelassen.
„Wir müssen ihr dieses Gestell ausziehen“, sagte Juvenal und winkte Melody zu sich. „Du übernimmst das, Melody.“
„Sprecht Ihr von dem Panier?“
„Was weiß denn ich, wie dieses sperrige Ding heißt, das Weiber unter den Röcken tragen.“
Als Melody die Röcke hochschlagen wollte, drückte Juvenal ihre Hände hinab. Es fehlte noch, dass Grishan die nackten Beine einer Lamia begaffte. Ganz davon abgesehen wollte er selbst auch nicht mehr von ihr sehen, als er bereits gesehen hatte.
„Aber wie soll ich denn die Schnallen erreichen?“, maulte Melody.
„Ihre Röcke bleiben unten!“, knurrte er sie an.
Nach kurzem Zögern hob Melody die weiten Stoffbahnen nur so weit an, um sich darunterzuschieben.
„Sie trägt eine Messerscheide am rechten Oberschenkel, aber das Messer fehlt. Soll ich sie trotzdem abnehmen?“
„Nein“, brummelte Juvenal in das Rascheln der Röcke und Spitzen hinein. Er musste den Stoff festhalten, damit er nicht heraufrutschte, als Melody wieder zum Vorschein kam. Zerzaust und rot im Gesicht zerrte sie das breite Panier hervor. Sancho nahm es ihr ab.
„Hast du etwa die Luft angehalten?“, fragte er verblüfft.
So devot Melody sich vor Juvenal gab, so barsch sprang sie mit Sancho um. „Was denkst du wohl? Die Sünde dringt ihr aus allen Poren.“
„Darf ich auch mal riechen?“, fragte Grishan.
„Du darfst dieses Gestell halten, während Sancho mir hilft“, zischte Juvenal.
Gemeinsam mit Sancho verschnürte er Berenike. Ein Seil wickelten sie um ihren Oberkörper und fixierten die Arme an den Seiten. Mit dem anderen umschlangen sie ihre Fußgelenke bis hinauf zu den Oberschenkeln. Ein letztes Mal prüfte Juvenal die Knoten, doch seine Gedanken weilten bei Gilian. Wie hatte sein Sohn sich so sehr vergessen und andere verletzen können? Im Leben eines Alphawolfes und Kriegers gab es zu viel Gewalt, um sie auch noch in das Rudel oder die eigene Sippe hineintragen zu wollen. Frühzeitig lernten sie, ihre Aggression unter Kontrolle zu halten. Juvenal suchte krampfhaft nach einer Entschuldigung für Gilian und stellte frustriert fest, dass er nichts entschuldigen konnte.
Grishan riss ihn aus seinem Brüten. Eine meerschwarze Strähne lag um seinen Finger und er wollte sie gerade an die Nase heben, um die von Melody erwähnte Sünde zu erschnuppern. Juvenal schlug auf seine Hand.
„Du sollst die Finger von ihr lassen, Grishan! Sie mag harmlos auf dich wirken, aber das ist ein Trugschluss.“
Grishan wich widerstrebend von dem schweren Tisch zurück. „Sie ist so fest verschnürt, dass sie ersticken wird.“
„Eher kommt das Jüngste Gericht über uns, als dass eine Lamia erstickt, Junge. Sobald sie zu sich kommt, wird sie sich daranmachen, die Fesseln zu lösen. Dazu braucht sie einige Stunden, aber danach wird sie diese Zelle nur kurzfristig aufhalten.“
„Ich könnte bleiben und sie bewachen“, schlug Grishan mit leuchtenden Augen vor.
Bleiben und mit ihrem Haar spielen traf es eher. Juvenal schob ihn vor sich her in den Gang. Sancho wartete bereits mit dem Schlüssel in der Hand. Nur Melody schien neben dem Tisch festgewachsen und
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