Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
blieb an ihren Wimpern haften. Mit den Fingerspitzen strich sie darüber und betrachtete die Feuchtigkeit. Tränen! Es sollten Diamanten sein. Winzige, scharfkantige Diamanten. Sie schluchzte auf und rang nach Atem. Sie war eine Sterbliche geworden, eines der schwächsten Geschöpfe auf Erden. Die Angst riss ihr weites Maul auf und wollte sie verschlingen, gleich einem unersättlichen Drachen.
Nein!, brüllte es in ihr auf. Du bist, was du schon immer warst, auch wenn du dich verändert hast. Du kennst keine Angst!
Ganz genau! Kraft war nicht alles. Es gab andere Stärken. Reflexe. Geschwindigkeit. Intelligenz. Vampire konnten ihr in der Dunkelheit gefährlich werden, bei Tage waren sie hilflos. Wer hinderte sie daran, den Spieß umzudrehen und selbst zum Schrecken zu werden? Entschlossen wischte sie über die Augen und schluckte den Kloß in ihrem Hals. Sollten sie nur kommen, die Vampire und Lamia. Sie kannte ihre Horte. Sie besaß ein Katana, eine Armbrust und genügend Geld, um ihr Waffenarsenal aufzustocken. Ihr Gepäck war noch im Haus in der Curzon Street, sie musste es nur holen. Es brauchte mehr als einen Riegel an der Tür, um sie aufzuhalten. Sie glitt von der Fensterbank und schlich an die Tür. Auf der anderen Seite hielten die beiden Omegas Wache. Berenike lauschte auf ihre Stimmen.
„Mylord hätte niemals eine Lamia in seinem Hort geduldet“, sagte die honigblonde Wölfin.
„Mein Herr ist das Oberhaupt einer Sippe. Seine Beschlüsse sind mit denen seiner Söhne nicht zu vergleichen. Es ist etwas ganz anderes“, antwortete der alte Wolf.
Anders, in der Tat. Allein seine Männlichkeit war gewaltig und konnte zu einer Waffe werden. Berenike spürte noch immer den harten Druck an ihrem Hintern. Anders war Juvenal jedoch auch, weil er die Schändung abgewendet und sich auf seine Prinzipien besonnen hatte. Er scheute vor Grausamkeit und unsinniger Brutalität zurück. Das machte es einfacher, dieses Haus zu verlassen. Selbst wenn es misslang, würde er ihr nicht den Kopf abreißen.
„Du sollst die Lamia auslöschen, wo immer du sie findest. Das steht in den Chroniken“, zitierte die Wölfin.
„Das ist allein seine Entscheidung, Melody. Wir haben unsere Anweisungen. Solange der Herr außer Haus ist, halten wir Wache. So lautet sein Befehl. Hast du eine Ahnung, was uns blüht, wenn wir dagegen verstoßen?“
„Wird er uns schlagen?“
Der Wolf schnaubte. „Natürlich nicht! Wir werden gut aufpassen und für die Lamia sorgen wie für einen geehrten Gast.“
Darauf folgte eine lange Pause. Die Enttäuschung der Rudelwölfin war durch das Türholz zu erspüren. Wonach Melody sich verzehrte, war für Berenike offensichtlich. Sie fand an Schlägen gefallen, und je unbarmherziger sie ausfielen, desto besser erging es ihr. Es war eine dieser unbegreiflichen Neigungen mancher Sterblichen, die Melody durch den Biss eines Alphawolfes nicht abgelegt hatte.
„Was er wohl von ihr will?“, sinnierte Melody.
„Was soll er schon wollen? Er hat eine Abmachung mit dem Großmeister der Vampire getroffen, das ist alles. Du solltest dein Mundwerk im Zaum halten, Melody. Wir beide dienen und gehorchen.“
„Such du nur nach Ausflüchten, Sancho. Ich ahne bereits, was er von ihr will. Unten im Keller war es unübersehbar. Er wird ihr erliegen. Früher oder später wird er sie in sein Bett nehmen. Das ist es, was er will.“
Berenike grub die Zähne in die Unterlippe. Traf die Ahnung der Rudelwölfin zu? Und wie würde es wohl sein, in seinem Bett und seinen Armen zu liegen? Was dachte sie denn da? Schleunigst schob sie diese Vorstellung weit von sich.
„Halt den Rand, Mädel!“, Sancho klang aufrichtig empört. „Juvenal de Garou verabscheut die Lamia von ganzem Herzen und hat nie einen Hehl daraus gemacht. So! Und nun Schluss damit. Unser Gast hat gewiss Durst. Ich hole Wein und Wasser, du bewachst unterdessen die Tür.“
„Seit Stunden ist alles still. Vielleicht belauscht sie uns, belauert uns gar. Sie kann den Riegel öffnen, das weiß ich.“
„Dann wirst du den Riegel eben festhalten, bis ich zurück bin. Und denk daran, welchen Ärger wir uns einhandeln, wenn wir nicht aufpassen.“
Schritte entfernten sich. Direkt auf der anderen Seite stand Melody, die Hand am Riegel, wie sie geheißen wurde. Berenike musste lediglich warten, bis die Rudelwölfin einen Fehler beging. Und sie würde ihn begehen. In ihr schwelte die Sehnsucht nach harten Strafen. Anstatt ihren Willen auf den Riegel zu
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