Der Funke des Chronos
nachdenklich. »Dafür fliegen wir querfeldein. Und der Wind steht günstig. Um Bergedorf zu erreichen, müssen wir uns lediglich etwas weiter südlich halten, immer am Schienenstrang entlang.«
»Keen Problem«, war hinter ihnen wieder die Stimme Borcherts zu hören. Soeben hatte dieser einige Kohlen nachgelegt und richtete die brummende Windschraube kampflustig nach Süden aus. »Düsse stählerne Ungetüm holen wi in. Un dann werd ik düsse franzeuschen Baguettefresser zeigen, dat man sick mit de Hamburger Polizei nich unstrooft anlegt.«
Stahl & Champagner
Bergedorf 1842, 5. Mai,
19 Minuten vor 6 Uhr gegen Abend
M it unsanftem Stoß setzte die Gondel des Flugballons auf einer großen Wiese auf, die von hohen Kastanien begrenzt wurde. Der Bewuchs gehörte zu einem Boulevard, der die Reste eines Verteidigungswalls und einen breiten Burggraben mit Teichrosen umschloss. Hinter den Bäumen ragte ein baufälliges, vier- bis fünfstöckiges Schloss mit roter Backsteinfassade und runden Erkern auf, dessen Dach von gotischen Staffelgiebeln bekrönt wurde. Einige Schindeln fehlten, und an der Fassade des wuchtigen Turms neben der Eingangspforte erhob sich ein hohes Baugerüst, aus dem – nur ein Stockwerk unter dem obersten Turmgeschoß – ein Kranbalken hervorlugte.
Das barocke Anwesen befand sich nur knappe hundert Meter Luftlinie von ihnen entfernt, und es kam einem Wunder gleich, dass Borchert den Ballon bis hierher gebracht hatte.
»Grandios, Borchert! Das war eine reife Leistung!« lobte Heine den Konstabler, der stolz Haltung annahm. Der Polizeiofficiant betätigte ein Ventil – und Dampf entströmte dem Kessel der Dampfmaschine. Kurz darauf kam die Windschraube zum Stillstand.
»Wi kunnen vun Glück seggen, dat wi hier runner kommen sünn«, meinte der Dicke bescheiden und grinste. »De Wind hett uns fast gegen de Fassade vun de Schloss weeht.«
In meiner Zeit nennt man das eine Punktlandung, dachte Tobias beeindruckt. In der Luft waren sie so gut wie möglich der Schienentrasse gefolgt, bis sie am östlichen Horizont das malerische Häusermeer Bergedorfs entdeckt hatten. Die an der Bille, einem Seitenfluß der Elbe, gelegene Stadt mit ihren hohen Fachwerkhäusern war von Feldern und grünen Wiesen umgeben und natürlich bei weitem kleiner als das stolze Hamburg.
Eingeholt hatten sie den Zug leider nicht. Als sie den pittoresken Bahnhof Bergedorfs endlich gefunden hatten, standen Dampflok und Waggons bereits am Bahnsteig. Der antiquiert wirkende Zug war mit Flüchtlingen besetzt gewesen, die von Stadtbediensteten auf den Vorplatz getrieben wurden. Sie mussten Platz für Löschspritzen und andere Hilfsgüter schaffen, die in Hamburg gebraucht wurden. De Lagarde und Justus Lewald waren von oben aus nicht zu erkennen gewesen. Doch Tobias war sicher, dass sein Gegner mit diesem Zug gefahren war.
Heine und er sprangen aus der Gondel, während Borchert vorsichtshalber noch etwas Wasserstoff abließ und dann ebenfalls aus dem Korb kletterte. Schnaufend band er eine Leine mit einem kleinen Anker an einer Parkbank fest.
»Was befindet sich im Schloss?« fragte Tobias und suchte vergeblich nach einem Stock, den er als Waffe benutzen konnte.
»De Stadtverwaltung«, brummte der Polizeiofficiant. »Bergedorf wird vun Hamborg un Lübeck tosommen verwaltet. Schon siet über veerhunnert Johr.«
»Nun, dann können wir davon ausgehen«, sagte Heine, »dass diese Eisenbahngesellschaft ebenfalls im Schloss untergebracht ist. Ein gutes Versteck für Erfindungen der besonderen Art.«
»Dann wollen wir uns beeilen!« rief Tobias. Er deutete auf die Brücke über den Wassergraben, über die in diesem Augenblick eine Mietdroschke zurück in die Stadt ratterte. »Wir müssen de Lagarde zuvorkommen.«
»Un was is mit dem Ballon?« wollte Bordiert wissen. »Den künn wi doch nich dor stehen lassen.«
»Vergessen Sie den Ballon!« wehrte Heine geringschätzig ab.
»Warten Sie!« rief der Konstabler und stapfte auf zwei Spaziergänger in vornehmen Gehröcken zu. Sie standen mit offenen Mündern und gesenkten Zylindern im Schatten der Bäume und starrten sie ungläubig an. Bordiert redete eindringlich auf die beiden ein und kam bald darauf zurück.
»De beiden Herren passen op dat Luftschiff op«, erklärte er zufrieden. »Nich, dat es düsse Franzeuschen noch infallt, mit dem Ballon to fliehen, wenn wi ihm erst einmol op de Pelle rückt sünn.«
Tobias, Heine und der Konstabler stürmten nun am Rande des
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