Der Funke des Chronos
Auge, die mit hoch unter den Arm geklemmten Körben ihren Einkäufen nachgingen. Er hatte das Gefühl, sich auf dem Set eines historischen Films zu bewegen. Die Hausmädchen trugen lustige, herabhängende Hauben, waren mit bebänderten Schuhen geschmückt, und die Kleider umspielten luftig ihre Waden.
Und da wurde im Norden, jenseits der schiefwinkligen Hausgiebel, auch der stattliche Turm des Michels sichtbar.
Der große Turm der St.-Michaelis-Kirche mit dem gewaltigen Uhrwerk, dem grünen Kuppeldach und dem offenen Säulenumgang in gut achtzig Meter Höhe erinnerte ihn schmerzlich an seine eigene Zeit. Er wurde wehmütig. Schon vorhin, beim Anblick der Petrikirche, hatte ihn ein eigentümliches Gefühl des Verlusts beschlichen. Doch der vertraute Anblick des Michels vermehrte sein Heimweh um ein vielfaches.
Kristian bog überraschend ab. Diesmal in eine Gasse, die sie wieder zurück zum Kanal zu führen schien. Die Buden und Säle links und rechts der Straße sowie das schmale Trottoir linkerhand des Weges kamen ihm irgendwie bekannt vor. Wenig später hielt die Droschke.
»Wi sünn dor.«
Tobias öffnete die Tür und ließ Caroline beim Aussteigen den Vortritt. Ein gutes Dutzend Schritte von ihnen entfernt trieben drei barfüßige Jungen laut krakeelend einen eisernen Tonnenreifen mit Stöcken und selbstgefertigten Lederpeitschen über die Straße. Doch im Gegensatz zum Schaarmarkt war es hier eher ruhig. Die Gasse war so eng, dass eine weitere Droschke große Schwierigkeiten gehabt hätte, an der ihren vorbeizukommen. Von irgendwoher roch es nach Kohlsuppe. Natürlich, inzwischen war es bereits Mittag.
»Da vorn hat mi de Karl vom Kutschbock rissen«, knurrte der Kutscher und deutete zu einer Stelle, in deren Nähe sich die Wand einer Hausruine erhob. Tobias erkannte sie wieder. Von dort oben war auch er in die Gasse gesprungen. Hinter der Gebäudefront musste somit das verwinkelte Viertel liegen, durch das er letzte Nacht geirrt war.
Sosehr sie sich auch bemühten, ihre Suche blieb erfolglos. Caroline entdeckte zwar auf dem Kantstein des Trottoirs etwas Blut, davon jedoch abgesehen waren nirgends weitere Spuren der nächtlichen Auseinandersetzung zu finden. Enttäuscht wollte er sich wieder der Kutsche zuwenden, als er bemerkte, dass die drei Jungen mit ihrem Spiel aufgehört hatten und sie neugierig beäugten.
Da kam ihm ein Einfall. Lächelnd ging er auf die Kinder zu, die ihn aus schmutzigen Gesichtern ernst anblickten. Die drei mochten zwischen sechs und sieben Jahren alt sein. Ihre Kleidung war abgerissen und wirkte ganz so, als seien sie nicht die ersten, die sie trugen.
»Sagt mal, spielt ihr hier schon länger?«
»Mööchlich«, antwortete ihm einer der Jungen. Seine Haare waren ebenso blond wie die von Tobias, und seine Augen funkelten in dem schmalen, verdreckten Gesicht wie blaue Aquamarine. Lässig hakte der Kleine einen Daumen in den Hosenbund, hielt seine kleine Peitsche aber abwehrend vor sich.
»Und wie heißt du?«
»Wo een will dat weeten?«
»Mein Name ist Tobias. Und deiner?«
»Friedrich.«
»Also Friedrich. Wir sind hier, weil wir hier gestern Nacht was verloren haben.«
»Ja und?«
»Kann ja sein, dass euch irgend etwas aufgefallen ist.«
»Güssern Noht hett dat hie een Overfall geben!« krähte auf einmal der jüngste der drei los. »Ober wi heff dor mit nix to dohn.«
Friedrich gab dem Kleinen einen unsanften Stoß mit dem Ellbogen und schnaubte. »Da höörn sej.«
Tobias fragte sich, was die drei Gören den lieben langen Tag wohl sonst so anstellten. Immerhin, den Anwohnern war der nächtliche Kampf also nicht verborgen geblieben.
»Und, habt ihr hier vielleicht was gefunden?«
»Wat kreegt wi denn dafor?« wollte der Jüngste aufgeregt wissen.
»Hol din Muul!« fuhr ihn Friedrich an, grinste dann aber breit. »Kümmt op an, wat sej söken.«
»Ich werde es erkennen, wenn ich es sehe«, gab Tobias zurück.
»Ducht sej, wi weern breegenklöderig, Mujsö?« Friedrich verzog das Gesicht. »Overhaupt, wenn wi wat funnen hebben, höört dat üss.«
»Vielleicht könnt ihr damit ja gar nichts anfangen. Was spricht denn dagegen, wenn ihr uns mal zeigt, worum es sich dabei handelt. Ihr habt doch was gefunden, richtig?«
»Un wat kreegen wi dafor?« platzte es erneut aus dem Jüngsten heraus.
»Wartet mal.« Tobias eilte zu Kristian und Caroline zurück, die neben der Droschke standen und ihm bei seiner Unterhaltung zusahen.
»Scheint so, dass die Jungs was
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