Der Funke des Chronos
einmal erwähnt.«
Tobias betrat das Innere der Scheune und blickte sich staunend um. Lewalds physikalisches Kabinett hatte die Ausmaße einer Sporthalle und wurde von einer Reihe neu eingezogener Holzpfeiler gestützt, die hoch hinauf bis ins Dachgestühl reichten. In den Dachschrägen waren vereinzelt Butzenscheiben zu erkennen, durch die helle Lichtlanzen tief in die Raummitte stachen. Wirbelnde Staubpartikel tanzten in ihrem Schein, es roch nach Holz, Maschinenöl und Ruß.
Doch dies fesselte die Aufmerksamkeit des Studenten nur am Rande. Sein Blick schweifte vielmehr über das Panoptikum technischer Gerätschaften, die Lewald an diesem Ort zusammengetragen hatte. Auf einem Holzblock, in der Mitte der Scheune, erhob sich eine große Lokomotive mit Röhrenkessel; nicht weit davon entfernt schimmerten die Bauteile eines halb auseinander genommenen dreirädrigen Dampfwagens. Zu seiner Linken war im Zwielicht ein Holzgerüst zu erkennen, von dem ein schwerer lederner Taucheranzug mit wuchtigem Eisenhelm hing. Ihm gegenüber stand ein mit Wasser gefülltes Becken, in dem das unterarmlange Modell eines U-Boots trieb. Tobias schüttelte fassungslos den Kopf. Was Lewald bescheiden als physikalisches Kabinett bezeichnete, war mit Sicherheit die bestausgestattete technische Ausstellungshalle in ganz Deutschland.
Die Lücken, die nicht mit Erfindungen und Apparaten zugestellt waren, wurden von Werkbänken eingenommen, auf denen Zündnadelgewehre, neuartige Pistolen, Thermometer, stroboskopische Scheiben, einfache Kondensatoren, Teleskope, Tachometer, versilberte Glasspiegel und manches mehr lagen.
»Meine Güte!« machte er seinem Erstaunen Luft. »Wie lange haben Sie gebraucht, um all das zu sammeln?«
»Jahre, mein junger Freund. Viele Jahre.« Lewald schmunzelte und stellte die Draisine neben dem mannshohen Modell eines optischen Telegrafen ab. Das Laufrad wirkte in dieser Umgebung wie eine Erfindung aus der Steinzeit.
»Mein physikalisches Kabinett ist kein Museum, es ist eine Werkstatt«, erklärte Lewald stolz. »Die wissenschaftliche Welt leidet unter dem Makel, dass sich die Genien unserer Zeit nicht austauschen. Mein Traum ist eine Akademie, in der die fähigsten Ingenieure und Konstrukteure des Kontinents unter einem Dach arbeiten. Welch bahnbrechende Erfindungen wären möglich, wenn sie ihr Wissen miteinander teilten, statt es eifersüchtig zu hüten?«
Tobias beäugte interessiert einige Skizzen, die auf einem der Werktische unter einem Buch mit dem Titel On the Economy of Machinery and Manufactures lagen. Sie zeigten eine Apparatur, die fast vollständig aus Zahnrädern bestand. Offenbar wurde die seltsame Maschine durch eine Lochkartensteuerung angetrieben.
»Was ist das? Der Antrieb für ein mechanisches Klavier?«
»Oh.« Justus Lewald wirkte außerordentlich verlegen und räumte die Skizzen hastig beiseite. »Das, nun ja, das habe ich kürzlich aus England erhalten. Da gibt es einen Mann namens Charles Babbage, der sich mit der Entwicklung einer vollautomatischen Rechenmaschine beschäftigt. Soweit ich weiß, arbeitet sie aber nicht. Noch nicht. Es wäre … also, es wäre freundlich von Ihnen, wenn Sie dies für sich behielten.«
Justus Lewald warb doch nicht etwa Agenten an, um Erfindungen und Baupläne zu stehlen? Lewald hatte wirklich einen Spleen. Dennoch musste Tobias lächeln.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich schweige wie ein Grab. Haben Sie schon immer so für Technik geschwärmt?«
»Nun, ich würde behaupten, diese meine Leidenschaft wurde aus der Notwendigkeit heraus geboren«, erklärte Lewald versonnen. »Mein Vater war Zuckerbäcker. Vor der Jahrhundertwende gab es in Hamburg noch über 200 Zuckersieder. Er und die anderen verarbeiteten damals Rohrzucker aus Übersee. War zu jener Zeit eine sehr begehrte Ware in den Ostseeländern. So lange, bis der Physiker und Chemiker Franz Achard 1801 ein neues Verfahren ersann und die erste deutsche Rübenzuckerfabrik baute. Danach stand die traditionelle Zuckersiederei am Abgrund. Napoleons Kontinentalsperre hat dem Ganzen dann endgültig den Todesstoß versetzt. Damals wurde mir auf ziemlich drastische Weise klar, dass die Zukunft demjenigen gehören würde, der auf die Erkenntnisse der Wissenschaft setzt. So fügte sich das eine zum anderen. War nicht leicht damals – für uns. Kommen Sie, ich führe Sie ein wenig herum.«
Lewald strahlte wie ein Kind, das davor stand, einem Freund seine Weihnachtsgeschenke zu zeigen. Er deutete auf
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