Der Gast: Roman
schenken wir uns das.«
»Einverstanden«, sagte Neal und führte sie aus der Schlange. Als sie wieder auf dem Mittelgang waren, schob er einen Ärmel hoch und sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde schließt der Park. Vielleicht sollten wir uns auf den Rückweg machen.«
»Wir haben sowieso das meiste schon gemacht.«
»Möchtest du Eis oder Popcorn oder so?«
»Wir haben doch nicht mehr viel Zeit.«
»Eine halbe Stunde.«
»Sollen wir nicht da reingehen?« Sie stieß ihn sanft mit dem Ellbogen in die Rippen. »Custers Spukhaus.«
Die ganze Fassade der Schreckenskabinetts bestand aus einer Mauer, auf der Kavalleriesoldaten und Indianer abgebildet waren, die tot auf einem grasbewachsenen Hügel lagen, während ihre Geister sich wie grauer Rauch aus den zerfetzten blutigen Körpern erhoben.
»Das nenn ich mal geschmacklos«, murmelte Neal.
»Willst du nicht?«
Er grinste. »Das hab ich nicht gesagt. Je geschmackloser, desto besser. Gehen wir.«
Doch während sie sich dem Eingang näherten, fühlte er sich gezwungen zu erklären: »Die Schlacht am Little Big Horn hat nicht mal in Nevada stattgefunden. Das war in Montana. Ungefähr tausend Kilometer von hier.«
»Mir egal«, sagte Sue.
»Mir eigentlich auch. Es ist bloß komisch. Aber der Pony-Express ist wirklich durch Nevada geritten.«
»Die beste Achterbahn der Welt.«
Neal drückte ihre Schulter. »Jedenfalls habe ich noch auf keiner solchen Spaß gehabt.«
Sie betraten Custers Spukhaus.
Während sie durch das Labyrinth der dunklen Gänge gingen, leuchteten plötzlich Schaukästen mit grauenhaften Szenen rot auf, und gruselige Geräusche ertönten. Bei den ersten Malen spürte Neal, wie Sue ein wenig zusammenzuckte. Doch dann schien es ihr nichts mehr auszumachen.
In den meisten Kästen befanden sich Gliederpuppen, die nicht realistisch genug waren, um irgendjemanden zu täuschen: ein indianischer Krieger, der mit heraushängender Zunge an einer Galgenschlinge baumelte; ein Kavalleriesoldat, der auf dem Rücken lag und ein halbes Dutzend Pfeile in der Brust stecken hatte, während ein heimtückisch grinsender, bemalter Krieger ihn skalpierte; eine Pioniersfrau in zerrissenem Kleid an einem Marterpfahl, um den Brennholz aufgestapelt war; ein Krieger, der sich noch auf den Beinen hielt, obwohl ein Soldat ihm mit seinem Säbel den Schädel gespaltet hatte; ein blutiger Kadaver, an dessen freiliegenden Rippen und Eingeweiden Truthahngeier herumpickten.
»Guck mal«, flüsterte Sue. »Der da hat sein Auge.«
Neal entdeckte ein Auge des Leichnams im Schnabel eines Geiers. »Cool«, sagte er.
Sue stieß ihn mit dem Ellbogen an und lachte.
Sie gingen weiter. Nach ein paar Schritten gingen die roten Lichter in den Schaukästen aus, und es war wieder völlig dunkel um sie herum.
Unter ihren Füßen schien ein dicker Teppich zu liegen, der ihre Schritte dämpfte.
»Viel dunkler geht’s nicht mehr«, sagte Sue.
»Nein.«
Sie drückte seine Hand. Dann blieb sie stehen. »Es ist auch so still.«
Sie lauschten beide schweigend.
Neal hörte Gelächter, Kichern und Schreie. Die Geräusche waren gedämpft und weit entfernt, doch sie schienen aus dem Inneren des Schreckenskabinetts zu kommen.
»Warum haben wir noch niemanden gesehen?«, fragte Sue.
»Ich weiß nicht.«
»Lass mich mal kurz los. Ich muss meinen Schuh zubinden.«
Er gab ihre Hand frei und hörte ein leises Knistern, als sie die Plastiktüte abstellte.
»Offenbar ist das hier nicht die beliebteste Attraktion in The Fort. Außerdem ist es fast zehn Uhr. Vielleicht sind wir die Einzigen, die so verrückt sind, sich die Geisterbahn bis zum Schluss aufzusparen.« Sue reagierte nicht, und er fragte: »Kennst du den Film Das Kabinett des Schreckens? Vier Jugendliche beschließen, die Nacht in dem Schreckenskabinett dieser unheimlichen Kirmes zu verbringen, die in die Stadt kommt. Also verstecken sie sich dort, als es abends schließt. Aber da treibt ein Monster sein Unwesen und bringt einen nach dem anderen um.«
Ist wahrscheinlich nicht so einfach, sich im Dunkeln die Schuhe zu binden.
»Glaubst du, hier gibt es auch ein Monster?«, fragte er lächelnd.
Sie antwortete nicht.
»Sue?«
Keine Reaktion.
Wie süß. Glaubt sie, sie könnte mir Angst einjagen?
»Hm«, sagte er. »Wo ist sie bloß?«
Neal bückte sich und fuhr mit der Hand durch die Dunkelheit. Sue hockte nicht neben ihm, um sich den Schuh zu binden.
Was hat sie getan? Sich davongeschlichen?
Es ist bestimmt alles in
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