Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
Feldherr Tilly dem eroberten Heidelberg aufgebürdet hatte.
David betrachtete ihren gekrümmten Körper unter der Decke. Der zuckte und bebte im Schlaf. Oder schlief sie gar nicht? Ihm wurde klar, dass sie neue Kleider brauchte, also schlich er kurz vor Sonnenaufgang aus dem Hühnerstall. In einem Hof auf der anderen Seite lagen Tote, manche nackt. David mühte sich, nicht hinzusehen. Er fand Frauenkleider und schlich zurück in den Hühnerstall.
Den ganzen Tag harrte er bei Susanna aus. Teilnahmslos kauerte sie im Heu. Soldaten kamen, drangen durch die Haustür ins Haus, aus dem David Susanna geholt hatte, und trugen Beute, Tote und den Bandelierreiter mit den blauen Hosen heraus. Von weitem sah es aus, als wäre er tot.
Gegen Abend fieberte Susanna, und er musste Wasser beschaffen. Wenigstens trank sie. Auch in der folgenden Nacht hallte Heidelberg noch vom Gebrüll gewalttätiger Landsknechte und vom Geschrei gepeinigter Menschen wider. In der unmittelbaren Nachbarschaft allerdings blieb es ein wenig ruhiger. Nur aus dem Haus, das die Landsknechte besetzt hatten, hörte David mal leises Weinen, mal gequältes Stöhnen, mal raues Lachen und Fluchen. Und irgendwann stieß einer das Fenster eines Erkers auf und erbrach sich aufs Dach hinaus.
Gegen Morgen öffnete sich ein Fenster in der Küche jenes Hauses, aus dem David Susanna gerettet hatte. Eine junge Frau kletterte heraus, huschte über den Hof, spähte unter dem Torbogen nach allen Seiten. Aschblonde Haarsträhnen hingen ihr aus dem Kopftuch. Schließlich wandte sie sich nach rechts und verschwand hangaufwärts Richtung Südmauer.
Und dann ging die Sonne auf, und der Sonntag brach an, der 18. September. Plötzlich läuteten die Glocken der Heilig-Geist-Kirche. Seit Anfang des Monats hatten sie geschwiegen; jetzt, nach diesen Schreckensnächten, so unverhofft ihren festlichen Klang zu hören traf David wie ein Fausthieb. Er zischte einen kroatischen Fluch.
»Wir wagen es«, flüsterte er später der fiebernden Susanna ins Ohr. »Wir gehen weg hier.« Sie schüttelte nur stumm den Kopf.
David fand einen großen Leiterwagen hinter dem Stall. Zu dem führte er Susanna, überredete sie, sich darauf zusammenzukauern. Sie war zu schwach, um ihm Widerstand zu leisten.
Danach band er Bela an die Deichsel, häufte Decken, Kleider, Waffen und zwei Körbe mit Federn über Susanna und schlüpfte in den blutigen Soldatenwams. Auch Harnisch, Waffengurt und das Patronenbandelier mit Kugelbeuteln und Zündkrautflasche legte er sich an. Zuletzt stülpte er sich die Sturmhaube über die Locken und hängte sich den Radschlosskarabiner mit dem fleckigen Marientuch über die Schulter. So verkleidet nahm er Bela andie Kette und führte ihn samt Karren aus dem Hof. Er wankte, wie Betrunkene wankten, nahm den Weg hinunter zum Hospital und daran vorbei Richtung Marktplatz. Die Glocken läuteten noch immer.
Er war keineswegs der einzige Waffenknecht, der an diesem denkwürdigen Sonntagvormittag zu spät, mit Beutegut beladen und betrunken zu seiner Kompanie zurückkehrte. So manchen torkelnden Raubmörder in kaiserlichen Diensten sah David die Fassaden entlang durch die Gassen schleichen, und alle trugen sie Kisten, Truhen und prall gefüllte Säcke oder zogen Leiterwagen oder Kleinvieh hinter sich her. Einen, der einen Braunbären an einer Kette führte, sah er allerdings nicht. Und keinem tränkte das Blut eines Eroberers den Wams. Dieser Gedanke wenigstens verschaffte dem jungen Gaukler eine gewisse Genugtuung.
Auf dem Marktplatz dann sah er verblüffend viele Menschen. Hunderte drängten sich allein vor dem Eingang zur Heilig-Geist-Kirche, tausende strömten aus der Hauptstraße auf den Platz – Soldaten aus Tillys Heer, Frauen und Kinder aus ihrem großen Tross; viele ritten auf Pferden, etliche fuhren in vollbesetzten Planwagen auf dem Marktplatz vor.
Alle wollten sie die erste Heilige Messe hören, die nach weiß Gott wie vielen Jahren zum ersten Mal wieder in der großen Kirche gelesen werden sollte – vor Tilly und seinen Obersten.
Grimmige Bitterkeit erfüllte David, während er sich mit Bär und Wagen den Weg durch die Menge bahnte. Der Glockenlärm dröhnte ihm in den Ohren. Er bemühte sich, niemandem ins Gesicht zu sehen, tat gleichmütig und berauscht. Bela knurrte, warf den Schädel hin und her und schnüffelte nach allen Seiten. »Nur ruhig, mein Tänzer«, sagte David so laut, dass auch Susanna unter dem Haufen aus Stoff und Gerät es hören musste. »Wir
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