Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
verblasste die Sonne – Kutsche, Gespann und Kutscher entfärbten sich, und eine Kraft, die ihr Angst einjagte, hielt ihr Schweben auf, zog sie wieder hinunter zur Erde, zu einem Dachstuhl und durch dessen klaffendes Gebälk in ein Haus. »Hannes!«, rief sie. Doch der war nur noch ein undeutlicher Schatten hoch über ihr und sehr weit weg.
Dann schloss sich das Gebälk, Gespann und Kutscher lösten sich in nichts auf, und sie stürzte auf ein Lager. Es stank nach Wein, altem Schweiß und Fisch, alles wackelte und ächzte. Angst tränkte jede Faser ihres Leibes. Etwas fiel hart und schwer auf ihre Brust, schnürte ihr die Luft ab. Ihr Herz raste, schneidenderSchmerz fuhr ihr durch den Leib, und sie schrie und schrie und schrie …
»Hannes!« Sie saß im Bett und schrie. »Hannes!« Eines der Kinder lief zur Tür hinaus, rief nach seiner Mutter. Die anderen ragten im Dunkeln wie kleine Schatten aus ihren Betten. »Hannes …« Susanna ließ sich zur Seite fallen, tastete nach Hannes’ Mantel. Noch immer raste ihr Herz, Schmerzen krampften ihren Bauch zusammen. Sie zog die Beine an, drückte den Mantel an die Brust und die Stirn gegen die Wand. Ein Traum, wieder nur ein Traum …
Jemand polterte die Treppe herauf, zischte, stürzte ins Zimmer. »Immer Geschrei!«, zeterte eine Frauenstimme. »Nacht für Nacht Geschrei!« Licht fiel in die Schlafkammer, Susanna richtete sich auf – die Frau des Großcousins stand mit einer Öllampe vor ihrem Bett. Die Kinder machten ängstliche Gesichter. Vier von ihnen hockten verschlafen oder starr vor Schreck im größten der drei Betten, drängten sich aneinander.
»So geht das nicht!«, zischte die Frau des Großcousins. »Nacht für Nacht dasselbe! Die Kindlein werden mir noch krank!«
Wieder kam jemand in die Kammer, die Landgräfin. »Ich nehm sie mit hinunter zu uns.« Marianne raffte Kleider, Decke und Bärenfell zusammen, führte Susanna die Treppe hinunter und aus dem Haus über den Hof in eine Gesellenkammer neben dem Ziegenstall, wo sie mit Stephan schlief. Den scheuchte sie hinaus und drückte Susanna hinunter aufs noch warme Lager. »Alles wird gut«, sagte sie, deckte sie zu, nahm sie in die Arme. »Schlaf weiter, Kind, ich bin bei dir.«
Am Morgen, als Susanna die Augen öffnete, saß Marianne schon neben dem Bett und bürstete ihr Haar. Es war kühl, draußen plätscherte Regen in Pfützen. Marianne ließ die Bürste sinken, setzte sich zu ihr aufs Bett und nahm ihre Hand. »Du bist nicht die Erste, die so etwas überlebt. Hörst du?« Susanna blinzelte zu ihr hinauf; sie verstand nicht recht. »Sieh mich an.« Marianne legtesich die Hand auf die Brust, ein sehr ernster und ein wenig bitterer Zug lag in ihrem breiten Gesicht. »Ich war noch jünger als du, als ich einer Horde Türken in die Hände fiel. Und mir half niemand. Auch hinterher nicht. Du wirst es auch überleben, du musst dich nur erinnern.«
»Erinnern?« Susanna verstand nicht. »Vergessen will ich, nicht erinnern.«
»Du wirst es nie vergessen.« Die Landgräfin schüttelte den Kopf. »Wenn du dich nicht freiwillig erinnerst, kehrt es im Traum zurück, alles: der Geruch, die Stimmen, der Schmerz, sein Gesicht. Oder am helllichten Tag, wenn du Blumen betrachtest, ein Lied hörst oder Tiere fütterst – wenn du es also am wenigsten erwartest; oder später dann, wenn du einmal in Liebe bei einem Mann liegen wirst.«
Die Ländgräfin sprach wie eine, die genau Bescheid wusste. Susanna betrachtete ihr ernstes Gesicht, versuchte zu verstehen. »Und wenn ich mich erinnere, hören die Träume auf?«
»Die Träume, die Kopfschmerzen, die Angst vor den Leuten.« Marianne nickte. »Wenn du es aushältst, sein Gesicht klar vor dir zu sehen, und wenn du ihn dann zu hassen beginnst, dann fängst du langsam an, wieder gesund zu werden. Und am besten erinnerst du dich, wenn du darüber sprichst. Du kannst mir davon erzählen …«
»Nein!« Susanna warf sich in die Kissen, drehte sich zur Wand. »Ich will mich nicht erinnern! Ich will nichts erzählen! Ich will davon nichts hören …!« Sie weinte und zitterte. Die Landgräfin blieb bei ihr sitzen, murmelte beruhigende Worte, begann eine Melodie zu summen, streichelte ihren Rücken und ihre Wangen, und Susanna ließ es zu.
Irgendwann setzte sie sich wieder auf und trocknete ihre Tränen. »Ich wasch mich jetzt. Dann muss ich die Tiere füttern und den Kindern Frühstück machen.«
Marianne seufzte, stand vom Bett auf und fuhr fort, sich dasHaar zu
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