Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
weinen. Sie tupfte die Augen mit dem Mantelärmel ab. Nicht weinen, Hannes wird bald kommen.
Sie war ganz sicher, dass er kommen würde, um sie hier in Heidelberg zu suchen. Er wusste doch, dass die Onkel und Tanten in der Stadt Tuch webten und färbten. Wohin sonst sollte man denn vor den wilden Waffenknechten des geharnischten Mönchs fliehen, wenn nicht hinter die starken Mauern von Heidelberg?
Ja, Hannes würde kommen. Sie musste nur Geduld haben, musste nur noch ein Weilchen warten, nur noch ein wenig vertrauensvoller beten. Ganz gewiss würde Hannes es in die schützenden Mauern schaffen.
Der eisgraue Himmel wurde nach und nach schwarz. Sonne sah man schon seit Tagen nicht mehr, und am Morgen hatte es den ersten Frost gegeben. Susanna fühlte, wie die Kälte aus dem Boden in ihre Glieder kroch. Sie steckte die Flöte ein, stand auf und ging den Schlossweg hinunter.
Doch Hannes musste sich beeilen. General Tilly, so erzählte man sich, holzte bereits alle Bäume rund um Heidelberg ab, legte Häuser und Stallungen in Trümmer, wollte bald auch auf die Stadt Ladenburg losgehen. Nirgendwo sollten die Verteidiger der Residenzstadt außerhalb von deren Mauern noch Kanonen aufstellen und Deckung finden können. Hässliche Gedanken, und Susanna begann zu zittern. Angst und Kälte krochen ihr bis ins Herz.
Unten in der Stadt riefen die Glocken der Heilig-Geist-Kirche zu einem Abendgottesdienst. Den wollte Susanna besuchen. Sie erreichte die kurfürstliche Kanzlei. Kaum eine Woche war es her, dass hier im Kanzleihof die englischen Komödianten aufgetretenwaren. Da hatte man noch ohne Mantel gehen können. Ein junger Gaukler, der ihr im Sommer schon auf dem Marktplatz aufgefallen war, hatte ihr den Hof gemacht. Sie erkannte ihn sofort wieder – vor allem wegen seines hornartig ausgestülpten Hutes und den Hahnenfedern darauf. Ein paar Faxen und allerhand Verbeugungen hatte er gemacht, mit vier Bällen jongliert und gestelzt dahergeredet wie ein gepuderter Kavalier. Wollte er sie damit beeindrucken? Oder verstand er es nicht besser?
Närrischer Kerl! Doch ein schöner Mann, wahrhaftig, wenn man ihn sich in besserer Kleidung vorstellte – von drahtiger Gestalt, braungebrannt und mit einem schmalen, kantigen Gesicht. Einem Gesicht, wie man es nicht alle Tage und nicht an jeder Straßenecke zu sehen bekam. Und dennoch nicht halb so schön wie Hannes’.
Sie lief am Spital vorbei, bog auf den Marktplatz ein. Viele Menschen strömten in die Heilig-Geist-Kirche. Der Magistrat hatte für diesen Abend einen Bittgottesdienst angesetzt.
Noch einer hatte ihr den Hof gemacht an jenem Tag vor einer Woche, ein junger Edelmann mit langen schwarzen Locken und Schwanenfedern auf dem Hut. Ohne Worte allerdings, nur mit Blicken. Doch Susanna schauderte, wenn sie an diese Blicke dachte: Schamlose und gierige Blicke waren es gewesen, so wie die der englischen Soldaten im Sommer auf der Brücke. Blicke, die nach ihrem nackten Leib gegrapscht hatten.
Genau wie dem närrischen Jongleur hatte Susanna auch dem Edelmann die kalte Schulter gezeigt. Sie schüttelte die Erinnerung an den Edelmann ab – und mit ihr den Ekel –, dachte lieber an die Komödianten und ihr Bühnenspiel. Es war unheimlich gewesen, doch zugleich schön wie ein guter Traum. Die Aufführung der Engländer hatte Susanna tief berührt. Sie hatte ja nicht einmal geahnt, dass es so etwas überhaupt gab.
Seit dem Abend jenes Tages wusste man in Heidelberg, dass der geharnischte Mönch die Residenzstadt für den Kaiser beanspruchte. In einem Brief hatte er den holländischen Gouverneur zur Kapitulation aufgefordert. Und seit gestern machte dessen Antwort die Runde in den Gassen und Straßen von Heidelberg: Er lehne die Forderung zur Übergabe ab, hatte van der Merven dem General der Papisten geschrieben. Und er wolle »Gut und Blut dabei aussetzen und sich nach dem Beispiel der Festung Frankenthal tapfer wehren«.
In der Menschenmenge, die durch das Portal ins Kirchenschiff strömte, entdeckte Susanna ihre Schwester Anna, den Martin und eine der Tanten. Sie schloss sich ihnen an.
Im Gestühl fand niemand mehr Platz. Mit hunderten standen sie im Mittelgang: mit Heidelberger Männern, Frauen und Kindern, mit Flüchtlingen aus den Dörfern und Städten der Bergstraße, des Kraichgaus und des Neckartals, mit englischen und holländischen Soldaten, mit elegant gekleideten und parfümierten Höflingen und mit schmutzigen und nach Schweiß stinkenden Maurern und
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