Der Gefährte des Wolfes: Tristan (German Edition)
gegeben, doch wegen ihrer Arthritis hatte sie vieles nicht mehr machen können, obwohl ihr Verstand immer messerscharf gewesen war.
Der Gedanke an seinen Bruder schickte einen schmerzhaften Stich durch Tristans Herz. Er vermisste Will und dessen Präsenz in seinem Geist und entschied, direkt nach dem Abendessen einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sollte das misslingen, würde er Conrad bitten, ihm bei einem gewöhnlichen Anruf zu helfen.
Mary setzte ihm einen dampfenden Teller mit Steak, Kräuter-Knoblauch-Reis und gedünstetem Gemüse vor.
»Zum Nachtisch gibt es frischen Apfel-Rhabarber-Kuchen, aber nur, wenn Sie ihren Teller bis auf den letzten Krümel aufessen«, beschwatzte sie ihn.
»Das ist Bestechung!«
»Nein, das ist nur ein kleiner Anreiz.« Mary grinste, während sie die Arbeitsflächen abwischte.
Tristan lachte. »Na gut. Ich werde aufessen, aber nur, wenn Sie sich zu mir setzen. Ich werde ja schon müde, wenn ich Ihnen nur zusehe. Können Sie denn nie still sitzen?«
Mary ließ sich auf den Stuhl neben ihm nieder und zog eine Tasche aus dem Eckschrank auf ihren Schoß, aus der sie ein Wollknäuel und Stricknadeln zutage förderte.
»Ähm...« Sie biss sich auf die Lippe. »Nein, offensichtlich nicht. Ich schätze, als kleines Mädchen habe ich das gute alte, puritanische Arbeitsethos zu sehr verinnerlicht.«
»Sie sind hier groß geworden?«, fragte Tristan zwischen zwei Bissen.
»Ja, sogar hier auf dem Anwesen. Meine Mutter und Großmutter haben beide schon für die Sterlings gearbeitet.«
»Tatsächlich?« Tristan war überrascht. Heutzutage blieben Menschen nicht mehr über Generationen hinweg am selben Ort. »Wollten Sie denn nie woanders leben und die Welt kennenlernen?«
»Oh mein Gott, nein. Der alte Mr. Sterling hat zwar angeboten, mich auf eine weiterführende Schule zu schicken, aber ich bin glücklich hier. Das war ich schon immer.«
Tristan bemerkte, dass die Köchin nicht einmal nach unten blickte, während ihre Finger die Stricknadeln bewegten.
»Gibt es irgendwelche Legenden über diese Gegend? Oder Aberglauben?« Eine Einheimische, deren Familie seit Generationen an einem Ort lebte, war immer eine gute Informationsquelle, was den jeweiligen Ort betraf.
»Sie meinen außer der, dass in den nördlichen Wäldern Werwölfe leben?« Mary lachte leise in sich hinein und ihr üppiger Busen wogte.
Tristan stimmte in ihr Lachen ein. »Genau, außerdem.«
»Naja, es gibt hier ein paar Häuser, die angeblich Geister beherbergen sollen, aber da die meisten von ihnen Zimmer vermieten, wird es wohl eher eine Touristenattraktion sein. Dann gab es drei tragische Unfälle auf den Feldern von Spenser Holder und von da an hat er seit Jahren keine anständige Ernte mehr eingefahren. Er hat sogar versucht, das Feld wieder der Natur zu überlassen, aber nicht mal die Wildpflanzen wollen darauf wachsen. Abgesehen davon und natürlich den alten Friedhöfen, ist das Einzige, was mir wirklich Angst macht, die Spuklichtung. Da ist was Unnatürliches am Werk.« Nur darüber zu sprechen, brachte Mary sichtlich zum Erschauern.
Tristan legte die Gabel beiseite, um Mary seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. »Erzählen Sie mir von der Spuklichtung. Hat es dort schon immer gespukt?«
Obwohl ihr das Thema nicht zu behagen schien, gab Mary schließlich nach. »Ich schätze schon. Die Lichtung gehört nicht mehr zum Anwesen, aber sie grenzt daran an. Sie liegt auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, wenn man in Richtung Stadt geht. Der Wald wächst um das nördliche Ende des Sees herum und dort gibt es eine Gruppe von Bäumen rund um eine wunderschöne Lichtung. Das Seltsame daran ist, dass die Bäume, die um die Lichtung herum wachsen, aus ganz verschiedenen Baumarten bestehen, sie aber alle ungefähr im selben Alter sind und dieselbe Höhe haben. Als ich noch ein Kind war, haben meine Schwester und ich versucht, Blumen auf der Lichtung zu pflanzen, weil wir es da so schön fanden. Bis zum nächsten Tag sind die Blumen verwelkt und abgestorben. Es ist beinahe so, als ob die Erde vergiftet wäre, nur dass es dem Gras und den Bäumen nichts auszumachen scheint.«
Tristan hatte das Essen vollkommen vergessen, lehnte sich weiter nach vorne und hing gebannt an Marys Lippen, als sie fortfuhr, die Geschichten, die mit der Lichtung verbunden waren, zu erzählen. Jeder, der diese Lichtung besessen hatte, war Opfer von harten Schicksalsschlägen, Tragödien und Todesfällen
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