Der Gefangene
ungerecht das Ganze sei. Dann forderte er Ron und Dennis auf, sich zu erheben, und verkündete, die Anklage werde hiermit in allen Punkten fallen gelassen. Sie seien frei und könnten gehen, wohin sie wollten. Einige Zuschauer applaudierten und brachen in Beifallsrufe aus, aber die meisten waren nicht in Feierstimmung. Annette und Renee umarmten ihre Kinder und Verwandten und brachen wieder in Tränen aus.
Ron schoss hinter dem Tisch der Verteidigung hervor, flitzte an der Geschworenenbank vorbei durch eine Seitentür und die Treppe hinunter nach draußen. Auf den Eingangsstufen des Gerichts blieb er stehen und füllte seine Lungen mit der kühlen Luft. Dann zündete er sich eine Zigarette an, die erste von Tausenden in der freien Welt, und hielt sie triumphierend in die Kamera. Das Foto wurde in einem Dutzend Zeitungen abgedruckt.
Wenige Minuten später war er zurück. Zusammen mit Dennis, den beiden Familien und den Anwälten posierte er für Fotos und beantwortete Fragen einer ganzen Horde von Reportern. Mark Barrett hatte Greg Wilhoit angerufen und ihn gebeten, für den großen Tag nach Oklahoma zu kommen. Als Ron Greg sah, umarmten sie sich wie Brüder, und so fühlten sie sich auch.
»Was empfinden Sie jetzt, Mr Williamson?«, fragte ein Reporter.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Ron zurück. »Ich habe das Gefühl, meine Füße bringen mich um«, sagte er dann. »Diese Schuhe sind mir zu klein.« Die Fragen zogen sich eine ganze Stunde lang hin, obwohl für später eine Pressekonferenz angesetzt war. Peggy Stillwell musste von ihren Töchtern und Schwestern aus dem Saal geführt werden. Sie war völlig verstört und schockiert. Niemand hatte der Familie etwas von der Sache mit Glen Gore gesagt. Damit standen sie wieder ganz am Anfang. Es würde einen neuen Prozess geben, und sie waren der Gerechtigkeit nicht näher gekommen. Außerdem waren sie verwirrt. Die meisten von Debbies Verwandten hielten Fritz und Williamson immer noch für schuldig - aber was für eine Rolle spielte Gore? Endlich begaben sich Ron und Dennis auf den Weg nach draußen. Jeder einzelne Schritt wurde sorgsam festgehalten und aufgezeichnet. Die Menge ergoss sich über die Treppe nach draußen. Dort blieben die beiden, die nun wieder frei waren, einen Augenblick lang stehen, um die Sonne und die eisige Luft zu genießen.
Sie waren frei und rehabilitiert, aber niemand hatte sich bei ihnen entschuldigt oder den Versuch einer Erklärung unternommen. Niemand hatte ihnen irgendeine Entschädigung oder Hilfe angeboten.
Es war Zeit für das Mittagessen. Rons Lieblingsrestaurant war Bob's Barbecue nördlich der Stadt. Annette reservierte telefonisch mehrere Tische. Das war auch nötig, denn die Gruppe wurde ständig größer.
Obwohl er nur noch wenige Zähne hatte und es nicht ganz einfach war, im Licht der Kameras zu essen, verputzte Ron einen Teller Spareribs und verlangte nach mehr. Er war kein großer Gourmet, aber diesen Augenblick genoss er. Er verhielt sich ausgesprochen höflich zu jedermann, bedankte sich bei den Fremden, die ihm Mut zusprachen, umarmte jeden, der Wert darauflegte, redete mit jedem Journalisten, der eine Story brauchte.
Dabei grinsten er und Dennis ununterbrochen, selbst wenn sie den Mund voller Grillfleisch hatten.
Am Tag davor waren Jim Dwyer, ein Reporter der New Yorker Daily News, und Alexandra Pelosi von der NBC-Sendung Dateiine nach Purcell gefahren, um sich mit Glen Gore zu unterhalten. Gore wusste, dass die Lage in Ada allmählich brenzlig wurde und dass er selbst mittlerweile der Hauptverdächtige war. Erstaunlicherweise war dem Gefängnispersonal nichts davon bekannt.
Als Gore hörte, dass Unbekannte nach ihm gefragt hätten, dachte er, es wären Anwälte oder Polizeibeamte - Leute, denen er lieber aus dem Weg ging. Gegen Mittag verschwand er von seiner Arbeitsstelle in Purcell, wo er Gräben gereinigt hatte. Er wanderte ein paar Meilen durch einen Wald. Dann stieß er auf einen Highway und ließ sich per Anhalter in Richtung Ada mitnehmen.
Als Ron und Dennis von Gores Flucht hörten, brüllten sie vor Lachen. Also musste der Kerl schuldig sein.
Nach einem ausgiebigen Mittagessen fuhr die Fritz-Williamson-Gruppe zur Wintersmith Park Lodge in Ada, wo eine Pressekonferenz angesetzt war. Gemeinsam mit ihren Anwälten nahmen Ron und Dennis hinter einem langen Tisch Platz und blickten in die Kameras. Scheck sprach vom Innocence Project und von dessen Kampf für die Rehabilitierung zu Unrecht Verurteilter.
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