Der Gefangene
Augenblicken erreichen. Außerdem waren da die beiden Vorfälle in Tulsa. Der Mann musste ein Vergewaltiger sein, gleichgültig, wie die beiden Jurys entschieden hatten.
Kurze Zeit nach dem Mord erhielt Debbies Tante Glenna Lucas einen anonymen Anruf, bei dem ein Mann sagte: »Debbie ist tot, und als Nächste sterben Sie.« Glenna erinnerte sich entsetzt an die mit Nagellack geschriebenen Worte »Als Nächstes stirbt Jim Smith«. Der ähnliche Wortlaut versetzte sie in Panik, aber statt die Polizei zu benachrichtigen, wandte sie sich an den Bezirksstaatsanwalt.
Bill Peterson, ein untersetzter junger Mann aus einer bekannten Familie in Ada, hatte diesen Posten seit drei Jahren inne. Sein Bezirk umfasste drei Countys - Pontotoc, Seminole und Hughes -, und sein Büro befand sich im Pontotoc County Courthouse. Er kannte die Familie Carter, und wie jeder Staatsanwalt aus einer Kleinstadt hatte auch er den Ehrgeiz, einen Verdächtigen auszumachen und den Fall zu lösen. Dennis Smith und Gary Rogers hielten ihn routinemäßig auf dem Laufenden.
Glenna unterrichtete Bill Peterson über den anonymen Anruf, und sie waren sich einig, dass wahrscheinlich Ron Williamson der Anrufer gewesen war - und der Mörder. Wenn er nur ein paar Schritte vom Haus in die Gasse tat, konnte er Debbies Wohnung sehen, von der Auffahrt seiner Mutter aus Glennas Haus. Er befand sich direkt in der Mitte, dieser seltsame Mann mit dem merkwürdigen Tagesablauf, und beobachtete die Nachbarschaft.
Bill Peterson sorgte dafür, dass ein Aufnahmegerät neben Glennas Telefon platziert wurde, aber es gab keine weiteren anonymen Anrufe.
Ihre achtjährige Tochter Christy wusste, was für eine schwere Prüfung die Familie durchmachte. Glenna behielt sie im Auge, ließ sie nie allein oder ans Telefon und stellte sicher, dass man in der Schule gut auf sie aufpasste.
Im Haus und in der Verwandtschaft wurde im Flüsterton über Ron Williamson diskutiert. Warum hatte er Debbie getötet? Worauf wartete die Polizei? Das Geflüster und der Klatsch nahmen kein Ende. Angst breitete sich aus, erst in der Nachbarschaft, dann in der ganzen Stadt. Der Mörder war auf freiem Fuß, für alle zu sehen, und jeder kannte seinen Namen. Warum holte ihn die Polizei nicht von der Straße? Eineinhalb Jahre nach seiner letzten Sitzung mit Dr. Snow wäre es tatsächlich besser gewesen, wenn Ron von der Straße geholt worden wäre. Eine stationäre Langzeitbehandlung war unumgänglich. Im Juni 1983, wiederum auf Drängen seiner Mutter, schlug er zu Fuß einen mittlerweile vertrauten Weg ein, den zum Mental Health Service von Ada. Er bat um Hilfe, verwies erneut auf seine Depressionen und seine Unfähigkeit, ein normales Leben zu führen. Man überwies ihn an eine Einrichtung in Cushing, wo Al Roberts, ein Fachmann für Suchtberatung und Rehabilitation, ein Gutachten erstellte. Er hielt fest, Ron habe einen IQ von 114, was »völlig im Bereich der normalen intellektuellen Leistungsfähigkeit« liege. Allerdings gab er zu bedenken, der Alkoholmissbrauch könnte zu einer Beeinträchtigung der Gehirnfunktion geführt haben.
»Dass er hier auftaucht, ist vielleicht ein Hilfeschrei«, stellte Roberts fest. Er hielt Ron für verunsichert, angespannt, nervös, problembelastet und depressiv.
Er ist eine sehr unangenehme Person und verabscheut Autoritäten. Sein Verhalten ist unberechenbar und unvorhersehbar. Er hat Probleme damit, seine Affekte zu beherrschen, ist sehr argwöhnisch und misstrauisch gegenüber Menschen in seiner Umgebung, lässt soziale Kompetenz vermissen und fühlt sich im Zusammensein mit anderen äußerst unbehaglich. Man kann nicht davon ausgehen, dass er Verantwortung für sein Verhalten übernimmt, und muss damit rechnen, dass er feindselig und aggressiv reagiert, um nicht selbst verletzt zu werden. Er sieht die Welt als einen sehr bedrohlichen und beängstigenden Ort und schützt sich durch Aggressivität oder in sich gekehrtes Verhalten. Ron wirkt sehr unreif und vermittelt das Bild eines ziemlich gedankenlosen Menschen.
Ron bewarb sich um die Aufnahme in ein Wiedereingliederungsprogramm der East Central University in Ada. Er gab an, einen Abschluss in Chemie machen oder sonst vielleicht Sportlehrer werden zu wollen. Dann erklärte er sich bereit, sich einer gründlicheren psychologischen Untersuchung und einer Reihe von Tests zu unterziehen. Zuständig war ein auf berufliche Wiedereingliederung spezialisierter Psy- chologe namens Melvin Brooking.
Brooking kannte
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