Der geheime Basar
mich zum Nachdenken, und das ist gut.»
«Erinnerst du dich an die Zeiten, als wir Michael Jackson hörten und das Gefühl hatten, dass die Erde bebt? Dass wir böse Kinder sind, die das Regime unterminieren? Ich sehne mich danach, das muss ich zugeben.»
«Es stellt sich heraus, dass du alles liebst, was verboten ist. Vielleicht lieben alle hier das, was verboten ist.»
Sie zuckte die Achseln.
«Als Michael Jackson verhaftet wurde, zündeten junge Leute hier im Land Kerzen an – aus Sympathie und Mitgefühl. Im vergangenen Jahr demonstrierten meine Schulfreunde gegen Hollywood, wegen eines Films über König Kyros den Großen. Dafür gingen sie auf die Straße, die Dummköpfe. Hört sich das für dich vernünftig an? Ich finde das traurig, Nilufar, ich verstehe das nicht, denken die Leute in dieser Villa denn, dass sie frei sind? Ist das in ihren Augen Freiheit?»
«Du bist hübsch, wenn du dich quälst», sagte sie, und ich musste lachen, denn auch Amir mochte es, wenn ich gequält aussah. «Nein», antwortete sie dann, «sie denken gar nicht, sie leben einfach. Genau das nennt man Leben, so ist das, überall, die Leute klettern nicht mehr auf Stacheldrahtzäune und werfen sich auch nicht mehr vor Panzer. Die Leute gehen zu Chomeinis Grab, weil sie das spirituell aufbaut oder weil die Polizei dort in der Nacht nicht herumschnüffelt und man heimlich Händchen halten und sich küssen kann. Das ist das Leben, man gewöhnt sich daran und sucht die Schlupflöcher.»
«Vielleicht ist es auch einfach spannend, und das ist alles?»
Wir standen dort, ihre weiße Haut neben meiner braunen, blickten auf die dunklen Berge im Hintergrund, da sagte sie plötzlich: «Komm, lass uns von hier verschwinden, dieser Ort tut dir nicht gut.» Sie legte mir eine Hand auf die Hüfte, hüllte den Schal um ihren Kopf und lotste uns hinaus. Wohin? Ich hatte schon aufgehört zu fragen.
Wieder ein Park mitten in der Nacht. Diese ganze Stadt bestand aus Parks. Wenn es keine Diskotheken oder Bars gibt, erscheinen Parks als eine ziemlich wilde Lösung, kein Wunder, dass der Bürgermeister Karbastschi Gärtner war. Nilu klagte, sie sei durstig, also kauften wir einen Karottensaft mit Zimt für sie und für mich einen Bananenshake, und da wir nun schon im Dschamschidieh, im Steingarten, waren, kletterten wir auch keuchend die fünfhundert Stufen den Berg hoch. Sie schlang sich um meinen Arm. «Man kann ganz leicht hier im Dunkeln verloren gehen», erklärte sie. Oben sanken wir müde auf eine Holzbank neben dem kurdischen Teehaus, und ich legte eine Hand auf die Hand, die auf meinem Oberschenkel ruhte, und dachte an all die Dinge, die man nicht tun durfte, um nicht zu zerstören, was gerade begann. Mein Herz wollte mein Gehirn zum Schweigen bringen, so angenehm war mir zumute, und wie gerne hätte ich gehabt, dass sie mit ihrem Kopf auf meinem Bauch einschliefe. Vom hohen Aussichtspunkt erblickte man einen Horizont aus tanzenden Lichterschlangen, die Stadt unten war ein brodelnder Reaktor, auch nach Mitternacht, und dumpfe Gitarrenakkorde erklangen aus Richtung des kleinen Amphitheaters. Kleine Wasserfälle strömten herunter und ergossen sich in Quellbecken an der dunklen Hangseite. Eine Fontäne zerstob in einen grünen Teich. Gekicher aus allen Ecken und Geflüster, es roch nach Geheimnissen und Zigarettenrauch. Freiwillige einer UNICEF -Aufklärungstruppe traten höflich auf uns zu, entschuldigten sich, sie würden uns gern über das Thema Aids aufklären. Wir grinsten, schlossen die Augen.
«Wonach strebst du, Nilufar Chalidian? Schließlich wirst du irgendwann genug davon haben, das Rennfahrermädchen zu sein, und Ingenieurwesen ist doch viel zu grau für dich. Wenn du abends ins Bett gehst, bevor du einschläfst, was hast du da vor Augen? Einen Mann? Kinder? Einen Bürojob? Alles merkwürdig. Was willst du eigentlich werden oder sein?»
«Muss man das im Voraus entscheiden?»
«Es muss ja nichts Spezifisches sein.»
«Was möchtest du denn Nichtspezifisches sein, zum Beispiel?»
«Ich und mein bester Freund aus Anzali nennen es Erfahrungssammler. Das haben wir beschlossen, im Leben zu sein.»
«Erfahrungssammler?»
«Und du bist sogar mehr als wir eine Erfahrungssammlerin», sagte ich und befürchtete, dass vielleicht auch ich nur eine Erfahrung wäre, die sie auf ihrem Weg sammelte.
«Keine Zeit, die Erfahrungen muss man jetzt sammeln.»
«Warum jetzt? Du hast siebzig Jahre Zeit, um Erfahrungen zu sammeln, mach nicht so
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